Seite 1: Zielsetzungen
Der Bürgerrat ist eine neue Form der Zusammenarbeit zwischen Bevölkerung und Politik. Unterstützt durch eine spezielle Art der Moderation – der Dynamic Facilitation – erarbeiten zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger einer Gemeinde, Region oder eines Landes an einem Wochenende Lösungen für gesellschaftliche Herausforderungen. Der Bürgerrat ist ein unparteiisches Sprachrohr der Bevölkerung und bringt Politik und Bürger näher zusammen. Es ist ein Instrument der Politikberatung, demnach konsultativ und als Ergänzung zum repräsentativdemokratischen System zu sehen.
Das Beteiligungsverfahren Bürgerrat (im englischen Original »Wisdom Council«) wurde von Jim Rough (USA) entwickelt. Der Bürgerrat ist eine einfach, kostengünstig und rasch durchzuführende Möglichkeit, Selbstorganisation und Eigenverantwortung in der Bevölkerung zu stärken. Nach dem Zufallsprinzip werden zwölf bis fünfzehn Bürgerinnen und Bürger eines Ortes oder einer Region ausgewählt, die an eineinhalb Tagen miteinander arbeiten. Aufgrund der Zufallsauswahl handelt es sich bei den Teilnehmenden um »normale« Menschen, die also nicht wegen ihres speziellen Vorwissens oder speziellen Qualifikationen ausgewählt wurden, sondern z.B. als Bewohner/innen eines Stadtteils, einer Kommune oder eines Bundeslands. Insbesondere vertreten sie dadurch keine Interessengruppen, sondern bringen ihre persönliche Meinung ein.
Am Ende des Bürgerrats wird von den Teilnehmer/innen eine gemeinsame Erklärung verfasst werden. Wichtig ist, dass sich die ganze Gruppe auf diese Erklärung einigt, die dann in einem zweiten Schritt der Öffentlichkeit präsentiert wird. Dies kann etwa in Form eines Bürgercafés geschehen, zu dem es keine Zugangsbeschränkung gibt. Alle interessierten Bürgerinnen und Bürger können daran teilnehmen. Wichtig ist, dass die relevanten Ansprechpersonen aus Politik oder Verwaltung anwesend sind.
Bei der Präsentation sollen jedoch nicht nur Thesen und Lösungsideen vorgestellt werden. Neben den Inhalten geht es auch um die Atmosphäre im Bürgerrat, den Prozess und mögliche Aha-Effekte, die zu einem Durchbruch in der Diskussion geführt haben. Nach der Präsentation sind alle Beteiligten aufgerufen, für sich selbst und im eigenen Umfeld das Ergebnis zu reflektieren und gegebenenfalls Konsequenzen zu ziehen: Die politisch Verantwortlichen, die Verwaltung, sonstige beteiligte Institutionen und natürlich die Bürgerinnen und Bürger.
Seite 2: Ablauf
Der Bürgerratsprozess ist ein mindestens dreistufiger Prozess, bestehend aus
- dem Bürgerrat,
- dem Bürgercafé (öffentliche Präsentation)
- und der Resonanzgruppe, die die Rückkoppelung der Ergebnisse an das politisch-administrative System bezweckt.
- Ergänzende Elemente, wie beispielsweise ein Infoabend im Vorfeld oder Arbeitsgruppensitzungen im Nachhinein sind sinnvoller Weise bei der Planung zu berücksichtigen.
- Den Abschluss bildet eine Rückmeldung von Seiten der politischen Vertreter oder der Verwaltung an die Teilnehmenden des Bürgerrats, wie die Ergebnisse behandelt wurden und was gegebenenfalls weiter verfolgt wurde.
Während der eineinhalb Tage werden die Teilnehmenden eines Bürgerrats dazu motiviert, Themen und Anliegen ihrer Wahl zu diskutieren. Sie stellen Thesen auf, bringen ihre Sichtweisen ein und entwickeln Lösungsideen und Empfehlungen. Aufgrund der auswahlbedingt vielfältigen Zusammensetzung der Gruppe geht es mit großer Wahrscheinlichkeit um Fragen, die viele Menschen in der Gemeinde bewegen.
Der Bürgerrat wird mit »Dynamic Facilitation« (DF) moderiert. Mittels dieser lösungsorientierten Moderationstechnik können Ideen entstehen, die über bekannte oder nahe liegende Lösungsansätze hinausgehen. Das Verfahren eignet sich daher gerade bei schwierigen oder konfliktbehafteten Themen. Der/die Moderator/in folgt dem natürlichen Fluss des Gesprächs, der »Energie der Gruppe«, notiert die Beiträge auf Flipcharts und »sortiert« sie in die Rubriken - »Probleme«, »Lösungen«, »Bedenken« und »Sichtweisen/Informationen«. Das Aufschreiben der Beiträge verlangsamt den Prozess, ermöglicht aufmerksameres Zuhören und stellt sicher, dass nichts verloren geht. Die dadurch entstehende achtsame Gesprächsatmosphäre wie auch die dynamische Moderation ermöglicht, dass Neues, Unerwartetes emergieren kann.
Ebenso wichtig wie der Prozess des Bürgerrates, ist die Einbettung in den politischen Prozess: Die teilnehmenden Bürgerrätinnen und -räte sollen nicht »umsonst« eineinhalb Tage gearbeitet haben – ein weitergehender Prozess sollte auch für sie sicher gestellt sein. Dadurch erfahren sie Wertschätzung und Anerkennung für ihr Engagement und sind durch diese positive Erfahrung eher gewillt, sich weiterhin zu engagieren oder diese Erfahrung weiterzugeben.
Der Bürgerrat trifft keine politischen Entscheidungen, hat aber dennoch eine große Wirkung in der Gemeinde. Dadurch, dass die Überlegungen und Empfehlungen öffentlich präsentiert werden, entsteht in der Gemeinde ein Bewusstsein für die Herausforderungen und für notwendige Entwicklungen.
Der Bürgerrat ist ein Mittel, sich intensiv mit gesellschaftlichen Problemen und ihrer Komplexität auseinanderzusetzen. Er schafft eine Form des kommunikativen Austauschs und leistet somit auch ein Stück weit politische Bildung (vgl. Lederer 2009). Die Teilnehmenden leisten qualitativ hochwertige Arbeit während der Diskussion: Es geht darum, gesellschaftliche Probleme zu erkennen und in ihrer Komplexität und Gesamtheit zu analysieren. Dementsprechend ist es notwendig, Prioritäten zu setzen und die Bedeutung einzelner Themen herauszuarbeiten. Genauso entscheidend sind aber auch soziale Kompetenzen, wie etwa die Auseinandersetzung mit anderen Standpunkten und Meinungen innerhalb des Gesprächs.
Ziel ist es, Menschen durch die Teilnahme am Bürgerrat dazu zu befähigen, sich eigenverantwortlich mit den Problemen ihrer Lebenswelt zu beschäftigen und selbst nach möglichen Lösungen zu suchen. Das als Empowerment bezeichnete Konzept der »Selbstbefähigung« ist ein wesentliches Moment gesellschaftlicher Selbstorganisation. Dies wird in Zukunft noch weiter an Bedeutung gewinnen (vgl. Arbter/Handler/Purker/ Tappeiner/Trattnigg 2005, Feindt/Newig 2005).
Der Bürgerrat ist in diesem Sinne ein gelebtes Beispiel partizipativer Demokratie und zeigt einen neuen Weg in der Zusammenarbeit zwischen Politik, Verwaltung und den Bürger/innen. Er hat wesentlichen Einfluss auf die Identifikation der Bürgerinnen und Bürger mit der Gemeinde und den Herausforderungen, denen sich die Verwaltung und Politik gegenüber sieht.
Seite 3: Anwendungen
Bürgerräte können für eine bestimmte Zielgruppe, zu einem bestimmten Thema oder in unterschiedlichen räumlichen Settings durchgeführt werden.
- zielgruppenspezifisch
Jugendliche, Ältere, Mütter, ... - themenspezifisch
Infrastrukturprojekte, Energiezukunft, ... - ortspezifisch
lokal, regional, landesweit
Was? | Etwa 15 zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger entwickeln in ca. zwei Tagen Lösungs- und Verbesserungsvorschläge zu Themen, die sie interessieren. Sie fassen die Ergebnisse in einem gemeinsam getragenen Statement zusammen. Dieses Statement wird im Anschluss öffentlich diskutiert. Alle Teilnehmenden sprechen für sich selbst und nicht als Vertretung anderer. |
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Für wen? | für bis zu 15 Personen
nach Zufallsprinzip ausgewählte Bürgerinnen und Bürger, möglichst heterogen in Alter, Geschlecht, Beruf |
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Stärken | Die Themen bestimmt die Gruppe selbst. Es wird über das gesprochen, was die Teilnehmenden am meisten bewegt.
Ideal, um in einer kleinen Gruppe Ideen zu sammeln und Visionen zu entwickeln, Schwerpunkte oder Entwicklungsrichtungen zu definieren, um Projekte zu diskutieren und zu verbessern. |
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Grenzen | Bringt Ideen, Anregungen und Lösungsansätze, aber keine fertig ausgearbeiteten Maßnahmen |
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Erreichbares Ergebnis | Ideen, Visionen, Vorschläge aus der gemeinsamen Sicht einer kleinen Gruppe, die Ergebnisse können danach detaillierter ausgearbeitet werden |
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Tipp | Die Ergebnisse sollen anderen Bürgerinnen und Bürgern sowie politischen Entscheidungsträgerinnen und -trägern persönlich präsentiert werden. |
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Dauer | 1-2 Tage, 1 Wochenende bis längerfristig; für alle drei Prozessschritte inkl. Vorbereitung bedarf es eines Zeitraums von rund 8 Wochen |
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Mehr Infos | www.wisedemocracy.org; www.dynamicfacilitation.com
Der Prozess wird mit einer speziellen Moderationsmethode, »Dynamic Facilitation« genannt, begleitet. Diese Methode gibt der Eigendynamik der Gruppe breiten Raum und ist ein wichtiger Garant für die Qualität des Prozesses und somit das eigentliche Alleinstellungsmerkmal der Methode |
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Bürgerräte werden in Vorarlberg seit 2006 durchgeführt. Seit 2013 ist der Bürgerrat auch in der Vorarlberger Verfassung verankert als ein Format der partizipativen Demokratie. In Vorarlberg und darüber hinaus (andere Bundesländer, Baden-Württemberg, Schweiz, Liechtenstein) wurden über 50 Bürgerräte in verschiedenen Gemeinden, Städten und Regionen sowie auf Landes- und Bundesebene umgesetzt, allerdings nirgends in der Intensität wie in Vorarlberg. Themen, die in den bisherigen Bürgerräten behandelt wurden, sind einerseits der Standortfaktor Gemeinde/Stadt, dazu gehören seine Wirtschaftsstruktur (z.B. die Belebung der Innenstadt oder Sicherung der Nahversorgung), die Vermarktung der Region oder Gemeinde und städtebauliche Entwicklungen (z.B. Verkehr, konkrete Bau- oder Planungsvorhaben). Andererseits war das Zusammenleben in der Gemeinde mit den Bereichen Integration, Sozialkapital und Lebensqualität und die Vernetzung von Engagement immer wieder Thema.
Seite 4: Literatur und Links
- Arbter, Kerstin / Handler, Martina/ Purker, Elisabeth / Tappeiner, Georg / Trattnigg, Rita (2005): Das Handbuch Öffentlichkeitsbeteiligung. Die Zukunft gemeinsam gestalten. Wien.
- Feindt, Peter / Newig, Jens (Hrsg.) (2005): Partizipation, Öffentlichkeitsbeteiligung, Nachhaltigkeit. Perspektiven der politischen Ökonomie. Metropolis Verlag, Marburg.
- Büro für Zukunftsfragen (Hrsg.) (2005): Kinder in die Mitte. Empfehlungen für ein kinderfreundliches Vorarlberg. Bürgergutachten.
- Büro für Zukunftsfragen/Lebensministerium (Hrsg.) (2012): BürgerInnen-Räte in Österreich. Ergebnisbericht zur begleitenden Evaluation.
- Büro für Zukunftsfragen (Hrsg.) (2014): Bürgerräte in Vorarlberg. Eine Zwischenbilanz.
- Frieze, Deborah und Wheatley, Margaret: From Hero to Host. A Story of Citizenship in Columbus, Ohio.
- Fuhrmann, Raban Daniel (2004): Verfahrenstheoretische Positionierung der Gemeinsinn-Werkstatt. Konstanz/Litzelstetten.
- Hüther, Gerald (2011): Wer wir sind und was wir sein könnten. Ein neurobiologischer Mutmacher. S. Fischer, Frankfurt am Main (5. Auflage).
- Lederer, Michael/Stadelmann, Julia (2012): Ansätze einer gelebten Verantwortungsdemokratie in Vorarlberg. Bregenz, 2012. In: Prorok, Thomas/Krabina, Bernhard (Hrsg.): Offene Stadt. Wie Bürgerbeteiligung, BürgerInnenservice und soziale Medien Politik und Verwaltung verändern. KDZ – Zentrum für Verwaltungsforschung, Neuer Wissenschaftlicher Verlag, Wien.
- Lederer, Michael (2009): Positionspapier Partizipation, Version 7. Bregenz: Büro für Zukunftsfragen.
- Lederer, Michael (2005): Gemeinsam oder einsam? Von der Funktion und Wirkung von Sozialkapital bei unterschiedlichen Theoretikern. Bregenz: Schriftenreihe Lebensraum Vorarlberg, Büro für Zukunftsfragen.
- Lederer, Michael (2009): Der Bürgerrat als Instrument für mehr Eigenverantwortung und Selbstorganisation bei politischen Entscheidungsfindungsprozessen.
- Surowiecki, James (2005): Die Weisheit der Vielen. Warum Gruppen klüger sind als Einzelne. C. Bertelsmann, München.
- www.partizipation.at
- www.vorarlberg.at/beteiligung