Umsetzung

Anwendungsfelder

Demokratie-Audits wurden in den letzten beiden Jahrzehnten in mehr als 20 Ländern in verschiedenen Regionen der Welt und für die Europäische Union vorgenommen. Seit Anfang der 1990er Jahre gibt es einen gemeinsamen Orientierungsrahmen für unterschiedliche Projekte zur Erforschung der Demokratiequalität ganzer Nationen (vgl. Kaiser/Seils 2005). Er wird aber auch zur kleinteiligen Bewertung von verschiedenen institutionellen Bereichen und Handlungsfeldern (von der Parteien- und Wahlkampffinanzierung bis zur Korruptionsbekämpfung), zur Bewertung von Reformregierungen (z.B. der Blair-Agenda in Großbritannien) oder der demokratischen Qualität von wichtigen Einzelentscheidungen genutzt. Dieses von David Beetham, Stuart Weir u.a. im Kontext der britischen Charta 88 entwickelte Konzept hat beachtliche Resonanz vor allem in den angelsächsischen Ländern, aber auch z.B. in Italien, den Niederlanden und in Schweden gefunden. Das Stockholmer »International Institute for Democracy and Electoral Assistance (International IDEA)« bot dem britischen Team von »democratic audit« die Gelegenheit, ein transnational anwendbares Handwerkszeug auszuarbeiten. Die Ergebnisse liegen u.a. in Form eines Praxishandbuchs (Beetham u.a. 2008) und in einer Überblicksbroschüre (Landman 2008) vor.

Im Zentrum des Demokratie-Audits (State of Democracy – SoD) stehen zwei demokratische Schlüsseldimensionen, die als relativ unumstritten gelten können: politische Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger in der Einflussnahme auf die Regierungspraxis (political equality) und die öffentliche Kontrolle staatlichen Handelns (popular control). Mit der gleichen Stoßrichtung hat International IDEA ein Demokratie-Audit für die lokale Ebene entwickelt (State of Local Democracy Framework – SoLD) und in mehr als 60 Kommunen weltweit erprobt (Kemp/Jimenez 2013).

Formen der Umsetzung

Auch wenn es ein ausgearbeitetes und international erprobtes Analyseschema gibt, ist es ratsam, die empirischen Indikatoren den jeweiligen nationalen und lokalen Gegebenheiten anzupassen. Auftraggeber der Audits sind überwiegend staatliche Stellen, gelegentlich auch wissenschaftliche Einrichtungen oder Nichtregierungsorganisationen. Mit der Durchführung der Befragungen werden zumeist Forschungseinrichtungen oder kommerzielle Umfrageinstitute beauftragt. Die Auswertung der gewonnenen Daten sollte dann in einem breiteren gesellschaftlichen Rahmen erfolgen und Gelegenheit für unterschiedliche Interpretationen bieten.

Diese pragmatische Form der Umsetzung bleibt jedoch hinter den Ansprüchen einiger Vertreter des Demokratie-Audits zurück. Sie betonen, dass es sich bei Demokratie-Audits selbst um ein demokratisches Verfahren (»democratic audit«) handeln sollte (aktuelle Informationen unter www.democraticaudit.com). Die Qualität der Bewertung von Demokratie lebt davon, dass sie sich auf eine möglichst breite öffentliche Beteiligung stützen kann und dabei möglichst detailliert die Vorstellungen der Bevölkerung aufgreift, wie eine qualitative Verbesserung der Demokratie aussehen könnte und sollte. Die Chance, dass Demokratie-Audits zu demokratischen Reformprozessen beitragen können, steigt in dem Maße, wie bereits der Prozess der Bewertung gesellschaftlich getragen und von wichtigen Nichtregierungsorganisationen sowie anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren unterstützt wird, d.h. nicht ausschließlich in der Hand von Regierungskommissionen oder wissenschaftlichen Expertengruppen bleibt. Erst durch wiederholte Erhebungen, die noch nicht die Regel sind, können Veränderungen sichtbar gemacht werden.

Deutsche Erfahrungen

Im Unterschied zu den Nachbarländern Niederlande und Österreich (Campbell/Schaller 2002) gibt es für die Bundesrepublik bislang kein umfassendes Demokratie-Audit. Immerhin liegen einige Ansätze auf Länderebene und in Kommunen vor. Thüringen und Sachsen-Anhalt betreiben regelmäßige Berichtssysteme (Monitoring), die mehr oder weniger detaillierte Auskünfte zur Demokratiezufriedenheit der Bevölkerung erheben. Sie sind jedoch bislang nicht in partizipative Prozesse mit reformpolitischer Zielsetzung im Sinne des »democratic auditing« eingebunden. Baden-Württemberg hat im Mai 2015 einen ersten Demokratie-Monitor vorgestellt.

Die größte Nähe zu den reformpolitischen Intentionen von Demokratie-Audits lässt sich bei verschiedenen kommunalpolitischen Initiativen feststellen.

Zwei Anknüpfungspunkte verdienen besondere Aufmerksamkeit:

  • Im Zusammenhang mit verschiedenen Netzwerken von »bürgerorientierten Kommunen« (vor allem das »Civitas-Netzwerk«, das von der Bertelsmann Stiftung betreut wurde, die »Kommunen der Zukunft« der Böckler-Stiftung und das regionale Städtenetzwerke in Nordrhein-Westfalen), die bereits vor mehr als einem Jahrzehnt entstanden, wurde auch die skandinavische Tradition »kleiner Demokratiebilanzen« aufgegriffen. Im Zentrum steht dabei die Leistungsfähigkeit kommunaler Einrichtungen und politischer Vertretungen, aber auch die Zufriedenheit mit den Möglichkeiten politischer Einflussnahme vor Ort insgesamt. Einige Kommunen haben mit einer Reihe solcher lokalen Demokratie-Bilanzen praktische Erfahrungen gesammelt (z.B. Viernheim, Heidelberg, Leipzig, Nürtingen, Weyarn) und sie zur Grundlage kommunaler Reformprozesse gemacht (www.buergerorientierte-kommune.de/schwerpunkte/demokratiebilanz.html). Qualität und Ansprüche der Studien sind sehr unterschiedlich, ebenso die Ausdauer, mit der sie betrieben wurden. Für eine Studie zu Viernheim gab es auch eine nationale Vergleichsuntersuchung, die Benchmarks zur Verfügung stellen sollte (Gensicke 2002). Während die Reformnetz­werke zu Beginn stark unter den Vorzeichen des »neuen Steuerungsmodells« standen und der demokratischen Eigentätigkeit der Gemeindebürger weniger Aufmerksamkeit widmeten, verstärkte sich in jüngster Zeit das Interesse an einer demokratiepolitischen Erneuerung der kommunalen Selbstverwaltung. Mit der Neuauflage des Leitbilds Bürgerkommune sind lokale Demokratie-Audits wieder im Fokus. So hat die Stadt Mannheim 2014 ein anspruchsvolles Demokratie-Audit vorgestellt (van Deth 2014) – auch Gießen ist aktiv geworden (Boje/Masser 2014).
  • Mehr lokale Demokratie ist zu einem zentralen Präventionskonzept kommunaler Strategien gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit geworden. Diese Strategien werden seit mehr als einem Jahrzehnt auch durch Bundesprogramme gefördert. Zahlreiche Kommunen haben in diesem Zusammenhang Sozialraumanalysen in Auftrag gegeben oder die demokratische Qualität ihrer Schulen evaluiert.