Vernetztes Denken

Seite 1: Methode

In den meisten Alltagssituationen haben wir es mit Problemen zu tun, die sich ohne Schwierigkeit mit gesundem Menschenverstand und Logik lösen lassen. Gesellschaftliche, wirtschaftliche, soziale und nicht zuletzt Umweltprobleme haben jedoch häufig durch vernetzte Zusammenhänge, Abhängigkeiten und Wechselwirkungen vieler Einflussfaktoren sowie die Dynamik ihrer Veränderung im Zeitablauf eine Komplexität, die unser normales Wissen und Verständnis übersteigt. Wir stehen hier »Systemen« gegenüber, deren Strukturen und Verhaltensweisen nicht offensichtlich sind - wir müssen sie uns erst erarbeiten.

Im Folgenden sei die Methode des vernetzten Denkens in Umrissen vorgestellt. Die vollständige Methode ist zu kompliziert und mit 2-3 intensiven Arbeitstagen auch zu langwierig, um der Zielsetzung dieser Praxishilfe Rechnung zu tragen. Teile, wie die Hinweise auf die Denkfehler, die Problembeschreibung aus verschiedenen Blickwinkeln oder die Gestaltungsregeln sind auch isoliert nützlich und ausführlich dargestellt.

Die grobe Kenntnis der ganzen Methode und ihres Ablaufs in Kurzform mag jedoch sinnvoll sein, um abzuschätzen, in welcher Situation sie sinnvoll und notwendig werden kann. Dann sei die vertiefende Literatur empfohlen und - wenn möglich - ein Moderator mit entsprechenden praktischen Erfahrungen.

Nachfolgend wird als Methode in sieben Schritten die Arbeit von Gomez und Probst bzw. Ulrich und Probst vorgestellt. Sie haben die Methode für Führungskräfte der Wirtschaft als Anleitung zum ganzheitlichen Denken und Handeln entwickelt.

1. Abgrenzung des Problems

Die Notwendigkeit einer sorgfältigen Problemanalyse und -abgrenzung ist im Abschnitt »Kritikphase« ausführlich begründet und mit methodischen Schritten beschrieben. Darunter befindet sich auch die von Gomez/ Probst vorgeschlagene Problembeschreibung aus verschiedenen Blickwinkeln.

2. Ermittlung der Vernetzung

Als Resultat des ersten Schrittes liegen die wichtigsten Einflussfaktoren wie Teile eines ein Puzzles vor. Diese sind nun miteinander zu verknüpfen und in Beziehung zu setzen, um ein ganzes Bild der Situation zu ergeben. Hierzu wird eine grafische Gestaltung verwendet, die besonders das Denken in Kreisläufen erleichtert. Mit Pfeilen wird ausgedrückt, welcher Einflussfaktor auf welchen anderen einwirkt. Mit einem »+« wird eine Entwicklung in derselben Richtung markiert (positive Rückkopplung = sich bis zur Explosion aufschaukelnder oder bis zum Verschwinden schrumpfender Prozess), mit »-« eine entgegengesetzte, stabilisierende Beziehung gekennzeichnet. So würden im Beispiel »Müllberg nach Altstadtfest« ohne regulierende Eingriffe weitere Altstadtfeste immer mehr Müllberge nach sich ziehen (gleichgerichtete »+«-Beziehung). Ein eingeführtes Verbot von Plastikgeschirr hätte eine stabilisierende Wirkung auf den Müllberg (entgegengesetzte »-«-Beziehung).

3. Erfassung der Dynamik

Die festgestellten Beziehungen haben im Zeitablauf nicht die gleiche Dynamik. Ein Verbot von Plastikgeschirr würde sofort , ein »Appell an die Bürger, künftig Teller, Tassen und Gläser selbst mitzubringen« vermutlich sehr viel langfristiger wirken. Diese Tatsache lässt sich dadurch berücksichtigen, dass die Beziehungspfeile in drei Stärken unterschiedlich dick gemacht werden (kurz-, mittel- und langfristig).

Neben den zeitlichen Wirkungen ist die Dynamik auch durch die Intensität der gegenwärtigen Einflussnahme gekennzeichnet. Um mit der Intensität die Bedeutung der einzelnen Größen im Netzwerk zu ermitteln, wird der »Papiercomputer« von F. Vester eingesetzt. Er ist eine Vernetzungsmatrix, in der jede Größe der Problemsituation mit jeder anderen in Beziehung gesetzt wird. Die Auswertung erfolgt durch Aufsummierung der Zeilen und Spalten (Aktiv- und Passivsumme) sowie Berechnung von Quotienten (Q) und Produkten (P). Hiermit ist nun eine Beurteilung der einzelnen Größen nach folgenden Kriterien möglich:

  • Aktive Größe (höchster Q): Beeinflusst die anderen am stärksten, wird selber am schwächsten beeinflusst.
  • Passive Größe (tiefster Q): Beeinflusst die anderen am schwächsten, wird selber am stärksten beeinflusst.
  • Kritische Größe (höchstes P): Beeinflusst stark, wird selber aber auch stark beeinflusst.
  • Träge Größe (tiefstes P.): Beeinflusst schwach und wird selber schwach beeinflusst.

Wegen der Kürze können die Einzelheiten hier nicht dokumentiert werden, doch sei festgehalten, dass die Teilnehmer des Workshops »Müllberg nach Altstadtfest« zu dem Ergebnis kamen, dass Bürger und Politiker in dem Problemzusammenhang passive, die Standbetreiber des Altstadtfestes aktive, die Stadtverwaltung, der Müllberg und die Medien kritische und der BUND sowie das Wetter träge Einflussgrößen sind.

Seite 2: Lenkung

4. Interpretation der Verhaltensmöglichkeiten

Komplexe Problemsituationen verändern sich im Zeitablauf. Die Problemlöser müssen sich über die möglichen Entwicklungspfade der Gesamtsituation (im Beispiel »Müllberg nach Altstadtfest« u.a. Entwicklung der Umweltgesetze, des Umweltbewusstseins, der Entsorgungstechniken usw.) ein Bild verschaffen, bevor sie beginnen, mit Maßnahmen Einfluss zu nehmen. Hierfür werden Szenarien erstellt: ein optimistisches, ein pessimistisches und ein wahrscheinliches Szenario.

5. Bestimmung der Lenkungsmöglichkeiten

Bevor nun in einer Fantasiephase nach Problemlösungen gesucht wird, sind die Lenkungsmöglichkeiten zu ermitteln, die der Problemlösungsgruppe auch tatsächlich zur Verfügung stehen. Betrachtet man das Müllproblem nach dem Altstadtfest aus Sicht der Sicht der Stadtverwaltung, dann gehören zu den nichtlenkbaren Größen: das allgemeine Umweltbewusstsein, das Wetter, die Industrie, die Medien, die Politiker und der BUND. Zu den (durch Vorschriften, Verordnungen, Genehmigungen, Kontrollen, Strafen) lenkbaren Größen gehören: die Standbetreiber, das Altstadtfest selbst und (in Grenzen) die Bürger.

In Kenntnis dieser Zusammenhänge kann nun gezielt mit kreativen Methoden nach Ideen und Maßnahmen gesucht werden, die - allein oder als Paket gebündelt - einen Lösungsbeitrag leisten.

6. Gestaltung der Lenkungseingriffe

Nachdem eine Fantasiephase hoffentlich viele Ideen erbracht hat, sind diese nach ihrer Wirksamkeit zu beurteilen. Ansatzpunkte hierfür bieten wiederum die Ergebnisse des »Papiercomputers« (3. Schritt). Betrifft die Idee einen Einflussfaktor, der gleichzeitig ein aktives Element und eine lenkbare Größe ist, so wird damit eine große Wirkung zu erzielen sein. Betrifft sie als lenkbare Größe ein kritisches Element ist, große Vorsicht geboten, da Kettenreaktionen über das ganze System zu erwarten sind. Bei Maßnahmen bezüglich passiver oder träger Größen darf man sich wiederum nicht viel Wirkung erhoffen.

Die Orientierung am »Papiercomputer« allein reicht jedoch nicht. Vielmehr sollten auch jene Regeln bedacht werden, die die Kybernetik als Grundregeln für das Funktionieren komplexer, »lebensfähiger« Systeme aller Art (F. Vester u.A.) ermittelt hat. Diese durch Naturbeobachtung gewonnenen Regeln können nicht automatisch auf soziale Systeme übertragen werden (Vgl. Müllbeispiel). Eine »verständige Prüfung« und »Übersetzung« scheint jedoch sinnvoll zu sein. Die sieben Gestaltungsregeln lauten:

  • Passen Sie Ihre Lenkungseingriffe der Komplexität der Problemsituation an;
  • Richten Sie Ihre Maßnahmen auf die aktiven und kritischen Einflussfaktoren aus;
  • Vermeiden Sie unkontrollierte Entwicklungen mit Hilfe stabilisierender Rückkopplungen;
  • Nutzen Sie die Eigendynamik und die Synergien der Problemsituation;
  • Finden Sie ein harmonisches Gleichgewicht zwischen Bewahrung und Wandel;
  • Fördern Sie die Autonomie der kleinsten Einheit;
  • Erhöhen Sie mit jeder Problemlösung die Lern- und Entwicklungsfähigkeiten.

7. Realisierung und Weiterentwicklung der Problemlösung

Im letzten Arbeitsschritt ist die Lösung vor der Einführung noch so auszugestalten, dass sie durch die Möglichkeit der Weiterentwicklung auch auf lange Sicht lebensfähig bleibt. Zu bedenken ist hierbei

  • eine Reparaturfähigkeit, sodass im normalen Rahmen auftretende Schwierigkeiten selbstständig gemeistert werden können;
  • eine Entwicklungsfähigkeit, um sich im Sinne eines evolutionären Prozesses neuen Umweltkonstellationen anzupassen und der Einbau
  • von Frühwarnindikatoren, die neue Probleme bereits in ihrer Entstehungsphase zu erfassen erlauben.