Beispielgeschichte Mühlenviertel

Phase III: Das Ziel – Kiloweise Moral

»Um mal ganz ehrlich zu sein, mir ist zwischendurch sehr klar geworden, weshalb ich hier in der Gruppe mitmache. Ich will zwar in unserer Stadt in Zukunft diese heimlichen Abschiebungen verhindern, aber andererseits, wer weiß, ob ich in zwei Jahren noch hier wohne. Was mich trotzdem dabei hält, ist die Lust, etwas Ungewöhnliches zu machen, und zwar mit euch.« Matthias blickt in die Runde. »So viel zu meinen Zielen, von mir aus können wir damit zu den Taten schreiten.« Wen wundert’s, dass Klaus heftig zustimmt ... und Inge widerspricht: »Nichts gegen den Spaß an der Sache. Aber zum Spaß fahre ich ehrlich gesagt lieber zwei Wochen an die See. Ich bin für Aktionen mit Aussicht auf Erfolg – und dafür müssen wir erst mal unsere konkreten Ziele klar haben, bevor wir klären können, wie wir dahin kommen.«

»Also gut«, sagt Bastian und schlägt als Zielformulierung vor: »Wir müssen dafür sorgen, dass die von der Stadt durch unserer Aktionen merken, dass sie nicht mehr so einfach abschieben können. Dafür brauchen wir eine effektive Telefonkette, mit der wir uns bei Gefahr gegenseitig informieren und rechtzeitig zur Stelle sind. Wir müssen einerseits bedrohte Flüchtlinge verstecken und andererseits den Verkehr in der Stadt lahm legen, damit alle mitkriegen, was da gerade für eine Sauerei passiert. Niemand soll sagen können, er/sie habe von nichts gewusst! Und den Politiker/innen einen Kübel Jauche vor die Füße kippen, damit sie sehen und vor allem riechen, wie sehr uns ihre menschenverachtende Politik stinkt.«

»Es ist doch Unsinn, die eigene Kraft an der Aufmerksamkeit des Gegners bzw. der Gegnerin zu messen«, entgegnet Gunda. »Immer nach dem Motto ›Ich bin so gut, wie ich gehasst werde’. Und am Schluss sind genau die gegen uns, die wir am dringendsten als Verbündete brauchen, nämlich die Bewohner und Bewohner/innen unserer Stadt. Und das nur, weil wir sie behindern und ihnen dafür kiloweise Moral servieren.

Nein danke. Ohne mich!« Und zu aller Überraschung meldet auch Klaus, der doch sonst immer für Action ist, Kritik an. »Vieles gefällt mir gut an deinen Ideen, Bastian. Aber was du da genannt hast, ist ein ziemlicher Mix  aus Aktionsideen, Zielen und Adressaten. Das sollten wir noch ein wenig sortieren. Denn«, und er blickt in die Runde,  »wenn wir das so lassen, hat Gunda mit ihrer Kritik wirklich Recht...« Nach einer kurzen Pause meldet sich Gunda wieder zu Wort: »Ich mache einen Gegenvorschlag ‚Möglichst viele Bewohner/innen und Bewohner unserer Stadt sollen sich gegen die Abschiebepraxis aussprechen. Sie sollen auf ihre Stadträte Druck ausüben und in ihren Parteien für eine entsprechende veränderte Beschlusslage sorgen. Wenn wir das als relativ kleine Gruppe auf die Beine stellen, können wir stolz auf uns sein.«

Inge schreibt die beiden genannten Ziele auf ein Plakat und erklärt, dass die Realisierung guter Ideen letztlich immer auch davon abhängt, ob es genügend Energie in einer Gruppe gibt, eine Idee auch weiter zu verfolgen (s. S. 40). Auch Bastians Ursprungsformulierung nimmt sie – zu seinem großen Erstaunen – nochmals auf.

Und tatsächlich ist das Ergebnis erstaunlich: »Zwar haben wir in unserer Gruppe zwei massive Gegner und Gegner/innen von Bastians Formulierung«, fasst Inge zusammen, »aber auch drei starke Befürworter und Befürworter/innen. Das zeigt mir, dass dieses Ziel konkret genug ist, um damit weiter zu arbeiten. In der Gruppe ist an diesem Punkt viel Energie, ganz im Gegensatz zu dem Ziel, den Infostand der Bevölkerung zu erhöhen, was Beate vorgeschlagen hatte. Das finden zwar alle richtig, denn niemand ist dagegen, aber auf der anderen Seite will niemand wirklich aktiv was dafür tun.«

»Jetzt bloß nicht dem kleinsten gemeinsamen Nenner folgen«, sagt Klaus erregt. »In Gefahr und größter Not, ist der Mittelweg der Tod, haben wir dazu früher immer gesagt.«  Alle lachen... und verstehen doch, worum es Klaus geht: Die Substanz von Bastians Vorschlag in eine Form zu bringen, die es auch denjenigen ermöglicht, die gegen den Vorschlag große Bedenken haben, sich mit dem Ziel oder den Zielen anzufreunden. Noch einmal sammelt die Gruppe die Pluspunkte und Kritikpunkte und schreibt sie nebeneinander auf ein Plakat:

Pluspunkte

  • macht klar, dass es uns ernst ist
  • zeigt unsere Stärke und ist effektiv, weil es die Abschiebung erst einmal real verhindert
  • Der Bevölkerung stinkt oftmals die Arroganz der Politiker/innen. Sie entwickelt eine klammheimliche Freude an der Jauche-Aktion und ist damitemotional auf unserer Seite.
  • schützt uns vor den »ewigen Zauderern«
  • wir zeigen, dass wir aktiv sind und dass wirklich alle mitmachen können, wenn sie nur wollen
  • macht Spaß

Kritikpunkte

  • verschreckt Bürger/innen
  • Mischmasch von Zielen und konkreten Aktionsideen
  • Angst vor Strafen, Schadensersatzkosten (Kriminalisierung)
  • hohe Hürde zur Beteiligung, weil wir einige Aktionen konspirativ vorbereiten müssen und deshalb nicht öffentlich zum Mitmachen aufrufen können
  • behindert Unbeteiligte, die im Verkehrschaos stecken bleiben und sich schon deshalb nicht mir unseren Zielen solidarisieren

Die Diskussion um ein realistisches Ziel beschäftigt die Gruppe an diesem Abend intensiv, und immer wieder weist Inge auf den Unterschied zwischen Mitteln (Aktionen) und Zielen hin. Gegen Ende des Abends findet Klaus eine Formulierung, der sich alle anschließen können: »Spätestens in einem halben Jahr ist die hiesige Abschiebepraxis eines der Top-Themen des politischen Diskurses. Mindestens eine Abschiebung haben wir in diesem Zeitraum verhindert. Neben dem dadurch erreichten Erfolg für die Betroffenen haben wir damit bewiesen, dass Abschiebungen durch öffentlichen Druck zu verhindern sind. Abschiebungen, die dennoch stattfinden, werden nach Möglichkeit öffentlich gemacht und sind für die Verantwortlichen mit hohen politischen Kosten und Imageverlust verbunden.«

Auch wenn eine solche Zielsetzung hoch gesteckt ist, scheint sie den Kräften der Initiative noch angemessen. »Das Ziel ist messbar und realistisch, auch der Zeitrahmen stimmt für eine Gruppe wie die unsere in ihrer gegenwärtigen Konstellation«, fasst Gunda die Vorteile aus ihrer Sicht zusammen.

Auch Bastian stimmt zu: »O.K., hört sich gut an. Und die Formulierung lässt sogar noch solche Aktionen zu, wie ich sie vorgeschlagen habe. Ich finde gut, dass wir mindestens eine Abschiebung verhindern wollen. Mehrere wären zwar besser, aber wir müssen auch auf dem Teppich bleiben. Wenn wir das geschafft haben, sehen wir weiter.«