Scheitern als Chance (Hamburg)

Seite 1: Ausgangslage, Ziele, Vorgehensweise

Ausgangslage

In St. Pauli-Süd – Hamburgs ärmsten Stadtteil ist die Arbeitslosenrate hoch, ebenso wie die Lärm- und Verkehrsbelastung. Die Wohnungen sind eher klein, dafür teuer und Grünflächen sind mehr als knapp. Die zuständigen Bezirkspolitiker/innen stehen selbstorganisierten, einmischungsbereiten Bürger/innen äußerst skeptisch gegenüber. Gleichzeit gehen nur wenige Bewohner/innen des Stadtteils wählen; viele, weil sie nicht wollen und andere, weil sie nicht dürfen (37% Migrant/innen).
Der Stadtteil hat jedoch auch viel zu bieten. Die Toleranz ist selbst gegenüber den ungewöhnlichsten Lebensentwürfen groß, es herrscht eine vergleichsweise hohe nachbarschaftliche Solidarität und es gibt viele lebendige Initiativen im Bereich der Musik, bildender Kunst und Politik.

Seit Mitte der 70er Jahre ist in St. Pauli-Süd die GWA St. Pauli-Süd e.V. aktiv. Sie betreibt das »Kölibri«, ein Zentrum für gemeinwesenorientierte Kultur- und Sozialarbeit. Von Theateraufführungen über Stadtteilkonferenzen bis zur Hausaufgabenhilfe findet hier eine breite Palette von Aktivitäten statt. Nach einer längeren Phase von Auseinandersetzungen um den Erhalt und Ausbau der eigenen Einrichtung wollten die Mitarbeiter/innen durch die Unterstützung von Selbstorganisation, politischer Einmischung und Vernetzung im Stadtteil die eigene GWA-Tradition wieder stärker beleben.

Zielsetzung

Mithilfe einer aktivierenden Befragung sollten

  • Probleme und Engagementbereitschaft in der Nachbarschaft herausgefunden und Anknüpfungspunkte für eine Aktivierung im Stadtteilzusammenhang hergestellt werden,
  • aktuelle Informationen über die Lebenssituation der Menschen im unmittelbaren Einzugsbereich gesammelt werden, um die Einschätzungen und Handlungsorientierungen der Mitarbeiter/innen zu überprüfen,
  • eine Rückmeldung und Impulse für die Arbeit erhalten werden, indem Angebote und Öffentlichkeitsangebote der GWA St. Pauli-Süd überprüft und neue Ideen entwickelt werden,
  • Kontakte geknüpft und aufgefrischt sowie neue Mitmacher/innen und Vereinsmitglieder gewonnen werden.

Vorgehensweise

Es wurde ein breit angelegtes Projekt konzipiert, bei dem neben Expert/innen und Kooperationspartner/innen im Stadtteil (z.B. Straßensozialarbeit, Kirche, Bücherhalle, Schule, Jugendhaus, Sozialamt) mindestens 210 Bewohner/inne zuhause und 40 Schüler/innen per Fragebogen im Unterricht befragt werden sollten. Gleichzeitig wurde das laufende Veranstaltungsprogramm weitergeführt, weshalb sich die GWA St. Pauli-Süd von außen Verstärkung durch zwei Studentinnen der Stadtsoziologie und Honorarkräfte holte. Die Studentinnen recherchierten die genaue Bevölkerungszahl und Altersverteilung  des Einzugsgebietes, unterteilten es nach baulich vorgegebenen Gebietsgrenzen (homogene Wohnblocks, große Straßen) und schlüsselten jeweils die Verteilung von Frauen und Männern sowie Deutschen und Migrant/innen nach Alter auf.  Daraus wurden die Vorgaben für die Anzahl der Gespräche mit den unterschiedlichen Zielgruppen abgeleitet.
Aufgrund der mehrschichtigen Zielsetzung erhielt der entwickelte Fragebogen einerseits offene Fragen, um die Gesprächsatmosphäre möglichst informell, wenig wissenschaftlich-einschüchternd, offen und motivierend zu gestalten. Andererseits sollten die Fragebögen möglichst konkret und vergleichbar sein, sodass im Bezug auf die persönliche Lebenssituation, die Wahrnehmung des Stadtteils und der GWA/Kölibri mit ihren Angeboten auch halboffene und geschlossene Fragen eingebracht wurden. Die Befragenden ließen sich intensiv auf die Situation ein und benutzten den Fragebogen lediglich als Leitfaden, sodass die Gespräche teilweise bis zu zwei Stunden dauerten. Von 507 aufgesuchten Haushalten verweigerten 297 das Gespräch. Am Ende gelang es, 210 Interviews mit Erwachsenen und 24 Expert/inneninterviews zu führen; hinzu kamen die 40 Fragebögen der Schüler/innen

Seite 2: Erkenntnisse, kritische Punkte

Erkenntnisse

Da viele Menschen nicht zuhause sind oder das Gespräch verweigern ist es gut, viel Zeit und eine hohe Frustrationstoleranz mitzubringen. Es war hilfreich, die Befragungssituation vorher im Rollenspiel zu üben und einen Testlauf (16 Befragungen) durchzuführen, der Aufschluss über die Erhebungssituation, die Rolle der Befragenden, den Fragebogen und die Erreichbarkeit und Motivation der Befragten gab. Statt die Befragten zu Beginn zu fragen, ob sie einen Moment Zeit hätten, war es effektiver, direkt auf die Relevanz der Befragung hinzuweisen und zu erklären, dass die Ergebnisse in anonymisierter Form bei einem Nachbarschaftstreffen vorgestellt werden sollten. Bei Interesse der Befragten selbst aktiv zu werden, baten die Befragenden um Telefonnummer und Adresse, um erneut Kontakt aufnehmen zu können.
Positiv war der gezielte Mix aus Elementen des Community Organizing, den Erfahrungen der Mitarbeiter/innen aus der Stadtteilarbeit und denen der Student/innen aus einer qualitativen Forschung aus einem anderen Hamburger Stadtteil. Die Mehrsprachigkeit der Befrager/innen (u.a. Türkisch) war gewährleistet und es wurde durch deutsch- und türkischsprachige Info-Plakate und GWA-Programmhefte im gesamten Stadtteil schon vorab über die Befragungsaktion informiert.

Kritische Punkte

Die Ziele wurden zum Teil erreicht (Ziel 2, 3 und eingeschränkt auch 4); insgesamt war die Aktion unter Aktivierungsgesichtspunkten jedoch ein Misserfolg, aus dem viel für die Zukunft gelernt wurde.
Beim Auswertungstreffen drei Monate nach Abschluss der Befragung kamen inklusive 6-köpfigem GWA-Team nur 30 Interessierte. Überwiegend handelte es sich bei diesen um Expert/innen, die auch die anschließende Diskussion dominierten. Das Konsensthema des Abends war die notwendige Reduzierung von Hundehaufen auf Gehwegen und Spielplätzen. Die Selbstorganisation bestand in der Bitte an den bürgernahen Beamten der Polizei, ein entsprechendes Schreiben an Hundebesitzer/innen aufzusetzen. Die GWA machte das Layout und verbreitete, dass der Brief zur Abholung und Verteilung bereit liege; es kam jedoch niemand. Die Vorstellung, mit der Befragungsaktion eine neue Stadtteilgruppe zum Leben zu erwecken oder Impulse für ein Aktiv-werden der Nachbar/innen zu geben, erwies sich als falsch.
Es wäre notwendig gewesen, mehr Ressourcen in die Vorbereitung und Durchführung der Befragung und vor allem in die Arbeit nach der Befragung zu stecken und mehr Abstriche beim restlichen Programm der GWA St. Pauli-Süd zu machen. Die Prioritätensetzung und auch die (unterschiedlichen) Interessen und Ansprüche im Team hätten im Vorfeld besser geklärt werden müssen.
Es wäre notwendig gewesen, die am häufigsten genannten Probleme und die signalisierte Bereitschaft, etwas im Stadtteil zu tun, systematisch aufzugreifen. Die produktive Weiterarbeit mit den vorhandenen Ergebnissen fand nicht statt, weil sich zu wenige Gedanken darüber gemacht wurden, wie man den Beteiligungswillen vieler Menschen weiter befördern könnte und welche Ressourcen (z.B. im Personalbereich) gebraucht würden.
Die Ergebnisse der Befragung waren zum Teil sehr widersprüchlich; viele Menschen äußerten zwar einen Veränderungs- und Beteiligungswunsch, äußerten aber gleichzeitig, dass sie zum Mitmachen zu alt, zu krank oder zu pessimistisch seien, keine Zeit hätten oder lieber Sport machen würden. Hier hätte die GWA St. Pauli-Süd mehr Zeit einplanen müssen, um sich darüber Gedanken zu machen, was die Ergebnisse für ihre Aufgabenstellung als Professionelle bedeutete.
Letztendlich wäre es sinnvoller gewesen, sich bei der Zielsetzung auf ein oder zwei Aspekte zu beschränken. Die Auseinandersetzung mit den Resultaten der Befragung blieb bruchstückhaft und oberflächlich; auf eine aufwendige Vorbereitung folgte eine ungenügende Nachbereitung. Das lag zum Teil an einer hohen Arbeitsbelastung, die im Laufe des Projekts eher zu- als abnimmt. Dennoch kam die GWA zu dem Schluss, dass die entdeckten »Schätze – hier Kontakte, Einmischungsbreitschaft und Anregungen – nach dem Aufwand bei der Vorbereitung und Durchführung viel besser genutzt werden sollten.