Seite 1: Ausgangslage, Vorgehensweise
Das Nachbarschaftsbüro in Delmenhorst-Düsternort ist als Einrichtung des Diakonischen Werkes Delmenhorst/Oldenburg-Land e.V. seit 1999 im Stadtteil aktiv. Mit dem Ziel, Themen und Ideen der Anwohner/innen wahrzunehmen und zu stärken, bietet das Nachbarschaftsbüro Projekträume, Ressourcen und Beratungsmöglichkeiten für die Bürger/innen des Stadtteils an und unterstützt sie bei der Umsetzung ihrer Vorhaben. Eine Erfolgsgeschichte ist die Unterstützung einer Gruppe Geflüchteter, die mittels Community Organizing mehr Mitspracherecht in für sie wichtigen Themen erlangte.
»Neue Wege entstehen dadurch, dass man sie geht« - Community Organizing in Delmenhorst-Düsternort
Im Sommer 2017 traf sich in den Räumen des Nachbarschaftsbüros in Delmenhorst-Düsternort wöchentlich eine größere Gruppe von Menschen aus Afghanistan, die sich untereinander austauschten und Fragen zu Wohnungen, Aufenthaltsrecht und Schulbesuchen klären wollten. Gründer der Gruppe war ein in der Nachbarschaft lebender Mann aus Afghanistan, der die deutsche Sprache bereits erlernt hatte, über einen sicheren Aufenthaltsstatus verfügte und durch verschiedene Kontakte einen guten Überblick über bürokratische Vorgänge und Zusammenhänge erhalten hatte. Im Laufe des Sommers bat er die Mitarbeiter/innen des Nachbarschaftsbüros um Unterstützung, um der Gruppe mehr Struktur zu geben und eine Plattform des Austauschs zu erschaffen, die nicht nur ihm als Gründer, sondern allen Mitgliedern der Gruppe die Möglichkeit bietet, aktiv zu werden und Verantwortung zu übernehmen. Mit Hilfe von Community Organizing sollte die Gruppe strategisch gestärkt werden. Nachdem es den Initiatoren kurzfristig gelungen war, Fördergelder für das Projekt einzuwerben, konnte die Umsetzung des Vorhabens starten.
Besonderheiten der Vorgehensweise
Den Einstieg in das Vorhaben bildete eine Informationsveranstaltung zum Thema Community Organizing, die den Geflüchteten unter Anleitung eines erfahrenen Organizers des Community Organizing Vereins FOCO e.V. das Konzept näherbrachte und für eine verbesserte Möglichkeit der Partizipation komplett auf Dari übersetzt wurde. Nach einer Diskussion über die Möglichkeiten und Herausforderung von Community Organizing stimmten die Beteiligten schließlich dafür, der Arbeit mit Community Organizing eine Chance zu geben.
Im Rahmen einer zweiten Veranstaltungen befragten sich die Beteiligten deshalb gegenseitig zu ihren aktuellen Lebenssituationen und damit verbundenen Problemen, um so erste Themen zu identifizieren, mit denen sich die Gruppe zukünftig verstärkt auseinandersetzen wollte. Um mehr Menschen in die Erfahrung mit einzubeziehen wurde zudem eine größere Versammlung geplant, zu der persönlich sowie über Handzettel, Aushänge und Social Media eingeladen wurde. Wichtig war den bis dahin ausschließlich männlichen Teilnehmern der Gruppe, dass durch die Organisation einer Kinderbetreuung auch Frauen an der geplanten Veranstaltung teilnehmen konnten.
Die Vorbereitungsgruppe einigte sich auf drei Fragen, mit denen sie auf ihre Vorhaben aufmerksam machen wollten:
1. Wie können wir unser Leben in Deutschland gut gestalten?
2. Wie können wir Lösungen finden für unsere Probleme?
3. Wie können wir einander unterstützen und helfen?
Zum dritten Treffen am 3. Oktober 2017 – bewusst ein Tag, an dem keine Sprachkurse oder Ähnliches stattfanden – kamen insgesamt 40 Personen. Es war geplant, weiterhin Gespräche mit neuen Interessierten zu führen und darüber hinaus eine Runde von Frauen zum gemeinsamen Gespräch zu versammeln, um so die vorbereitete Themenliste zu ergänzen und einzelne Themen zu priorisieren. Ergebnisse des Zuhörprozesses wurden erneut auf Deutsch und auf Dari dokumentiert.
Nach der Bewertung der Anwesenden bildeten sich drei Arbeitsgruppen mit den Themen »besondere Probleme der Menschen aus Afghanistan«, »Alltagsbewältigung (Kinderbetreuung, Arzttermine, usw.)« und »Wohnen«, die noch am selben Tag ihre Arbeit aufnahmen.
Seite 2: Ergebnisse, Erkenntnisse
Die Arbeitsgruppe »Wohnen» stieß bei den Teilnehmer/innen der Veranstaltung auf das geringste Interesse; da sie aber nicht unbesetzt bleiben sollte, fanden sich einige Freiwillige zusammen, die den Fokus der Arbeitsgruppe verstärkt auf das Thema »sicheres Herkunftsland« legten.
Aus der Arbeitsgruppe »Alltagsbewältigung« entwickelte sich eine Frauengruppe, die regelmäßig im Nachbarschaftsbüro zusammenkam.
Die Arbeitsgruppe »Besondere Probleme der Menschen aus Afghanistan« nutzte ihre Trainings mit dem Organizer zur Entwicklung einer Strategie, wie man das Thema »Kein sicheres Herkunftsland Afghanistan« bekannter machen könnte und überlegte parallel, wie sich ein Verein gründen ließe. Es bildete sich eine Kerngruppe heraus, die zuverlässig zusammenkam und auch an einer Arbeitstagung des FOCO e.V. zum Thema »Organizing mit Geflüchteten« mit mehr als 40 Anwesenden teilnahm, bei der sie sich mit Organizing-Gruppen aus ganz Deutschland austauschen konnten. Die Gruppe aus Delmenhorst-Düsternort nutzte die Gelegenheit, ihren bisherigen Projektverlauf vorzustellen und erhielt so von den anderen Teilnehmer/innen Tipps und Ideen für ihr weiteres Vorgehen. Auf diese Weise konnte das letzte Training im Rahmen der Projektförderung zur Vorbesprechung einer weiteren Versammlung genutzt werden, für die bereits diverse Organisationsaufgaben und Recherchethemen unter den Teilnehmer/innen aufgeteilt wurden. Basierend auf der Frage »Wer entscheidet über Asyl, wer ist für was zuständig?« entwickelte die Gruppe Ideen, wie sie auf ihr Thema » Kein sicheres Herkunftsland Afghanistan« aufmerksam machen könnten und identifizierte potenzielle Verbündete für die Umsetzung ihres Vorhabens.
Parallel zu diesem Prozess gelang eine Vereinsgründung von Menschen aus Afghanistan, die schon länger in der Stadt lebten und der sich einige Mitglieder der Delmenhorst-Düsternort-Gruppe anschlossen. Andere Teilnehmer/innen nutzten ihre wachsenden Sprachkenntnisse, um sich im Integrationsverein zu engagieren und ein paar Teilnehmer/innen konnten umziehen oder begannen Qualifizierungsmaßnahmen.
Der Nachbar, der die Gruppe ursprünglich ins Leben gerufen hatte, nahm an Train-the-Trainer Seminaren des FOCO e.V. teil und baute sein Netzwerk für die Vision einer großen Versammlung, die auf die Situation der Afghanen in Delmenhorst bzw. Deutschland aufmerksam macht, in Deutschland und Österreich aus.
Neben den Geflüchteten konnte auch das Nachbarschaftsbüro von dem Projekt profitieren und einige Erkenntnisse für die Unterstützung zukünftiger Projekte gewinnen.
- Die richtigen Rahmenbedingungen sind für den Erfolg eines solchen Projektes unabdingbar. Es muss ein geschützter Raum entstehen, der es den Teilnehmer/innen ermöglicht, ohne externe Beobachter/innen, die Presse oder Politiker/innen über ihre Bedürfnisse und Ziele zu sprechen. Dabei ist wichtig, dass durch Maßnahmen wie Kinderbetreuung und die Übersetzung der Veranstaltungsinhalte in die Muttersprache der Teilnehmer/innen allen Interessierten Partizipation ermöglicht wird.
- Community Organizing ist basisdemokratisches Handeln. Indem sich die Teilnehmer/innen mit Entscheidungsstrukturen in Deutschland auseinandersetzten und potenzielle Aktionen planten, bei deren Umsetzung sie von den Erfahrungen anderer Gruppen profitieren konnten, erlebten sich die Teilnehmer/innen trotz ihrer (aufenthaltsrechtlicher) Begrenzungen als Aktiv-Handelnde und setzten so einen Empowerment-Prozess in Gang.
- Um erfolgreich zu sein braucht Community Organizing genügend Ressourcen. Wichtig sind dabei nicht nur Geld für Trainings und Beratung, sondern auch Zeit, Geduld und ausreichende personelle Kapazitäten sowie personelle Kontinuität, um den Prozess zu begleiten.
- Prozessbegleitung bedeutet nicht Einmischung. Die Mitarbeiter/innen des Nachbarschaftsbüros blieben weitestgehend im Hintergrund und kümmerten sich in Absprache mit Ansprechpartner/innen der Gruppe vor allem die Rahmenbedingungen des Community Organizing.
- Die Gruppe führte sämtliche Aushandlungsprozesse in Dari und kommunizierte lediglich ihre Ergebnisse auf Deutsch. Die Mitarbeiter/innen des Nachbarschaftsbüros nahmen diese Erfahrung des Nicht-Verstehens positiv auf, da sie sie für die Situation der Zugewanderten mit zunächst fehlenden oder eingeschränkten Deutschkenntnissen sensibilisierte.
- Auch wenn ein Community Organizing – Prozess am Ende ins Stocken gerät, ist dies kein Scheitern des gesamten Projekts. Die neuen Erfahrungen, die die Beteiligten sammeln, sind unabhängig vom Ausgang des Projektes eine Bereicherung und Ermutigung sich weiterzuentwickeln und die erworbenen Fähigkeiten für weitere wichtige Schritte im Leben zu nutzen.