Der Begriff der »Bildungsferne«

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Da wir unsere Forschung darauf fokussierten, wie Angebote für »so genannte bildungsferne Familien mit Migrationshintergrund« gelingen, wollen wir – ohne uns zu tief in die fachpolitische Bildungsdiskussion hineinbegeben zu können – kurz erläutern, in welchem Verständnis wir den Begriff der »Bildungsferne« verwenden. Die relativierende Formulierung »so genannte bildungsferne Familien« deutet bereits daraufhin, dass wir den Begriff nicht uneingeschränkt verwenden.

Denn auch wenn zumeist ein Gefühl davon vorhanden ist, was »bildungsfern« im sozialarbeiterischen Kontext bedeutet, scheint es lohnenswert, sich damit auseinander zu setzen, was der Begriff einerseits an Assoziationen möglicherweise transportieren kann und was andererseits damit tatsächlich gemeint sein will. Was also bedeutet »bildungsfern« genau?

In den Arbeits- sowie Wissenschaftsbereichen der Sozialen Arbeit und Pädagogik gibt es einen sich schnell fortentwickelnden Begriffsgebrauch. Was früher als »schwierige«, dann als »sozial schwache oder sozial benachteiligte« Familie bezeichnet wurde, ist momentan die »bildungsferne« Familie. Dieser Wandel der Begrifflichkeit mag ein Resultat des Bestrebens sein, von Defizitbezeichnungen wegzukommen – tatsächlich klingt er weniger abwertend als seine Vorgänger, was zu begrüßen ist.

Dennoch ist er insofern kritisch zu sehen, als er durch den unterschiedlich verstandenen Begriff der Bildung unklar wird. Im Sprachgebrauch wird Bildung oft mit Qualifikation gleichgesetzt und bezieht sich auf schulische und berufliche Ausbildung. Dadurch ruft der Begriff »Bildungsferne« zunächst die Assoziation hervor, die bezeichnete Gruppe sei ungebildet – ungebildet in dem Sinn, dass wenig Wissen und keine Wissensnachweise wie höhere Zeugnisse o.ä. vorhanden sind.

Diese Zuschreibung fanden wir für die Zielgruppe der von uns untersuchten Projekte deswegen nicht bestätigt, da es sich um Familien mit Migrationshintergrund handelt, die häufig einen Teil ihrer formalen Bildungsbiografie im Ausland verbracht haben. Denn wenn man den Bildungsbegriff auf den der institutionalisierten Schul- und Ausbildung begrenzt, sind viele dieser Migrant(inn)en keineswegs bildungsfern: Einige haben in ihren Herkunftsländern Abitur gemacht, sogar studiert, etliche haben dort Ausbildungen absolviert.

Daher soll der Begriff der Bildung hier weiter gefasst werden: Er bezeichnet nicht so sehr Wissen oder qualifizierte Abschlüsse, sondern inwieweit die individuelle Teilhabe am kulturellen, sozialen und finanziellen Leben innerhalb unserer Gesellschaft gelingt. Auch die Erziehungswissenschaft definiert Bildung in der Tradition Humboldts derartig: »Bildung umfasst Beschreibungen, welche grundlegende Haltung der Mensch zu sich und zu der ihn umgebenden materiellen, sozialen und geistigen Umwelt einnimmt. Dieser Prozess der Auseinandersetzung erfolgt […] überwiegend mit Hilfe der Sprache und anderen Symbolsystemen.« DEUTSCHER VEREIN 2002:153

Ein Grund, der die Teilhabe an der Gesellschaft und die Entfaltung der Persönlichkeit verhindern kann, kann durchaus eine mangelnde Schulausbildung sein. (24) Der Zugang kann aber auch durch andere Gründe z.B. schon allein aufgrund der Migration verwehrt werden: Abschlüsse werden nicht anerkannt, der Arbeitsmarkt bleibt verschlossen, die erworbene Allgemeinbildung bietet im neuen kulturellen Zusammenhang keinen Anknüpfungspunkt, notwendiges Wissen über das System ist unbekannt, auch die bisher entwickelte kulturelle Identität ist nicht zwingend kompatibel mit dem neuen Heimatland, es wurden evtl. andere Erziehungs-, Wert- und Verhaltensmuster erlernt, möglicherweise ist die Verständigung durch mangelnde Deutschkenntnisse stark erschwert. Die letztgenannten Punkte werden in der oben zitierten Bildungsdefinition exemplarisch genannt: Wenn Zugang zu Bildung primär durch Sprache und kulturelle Symbole erfolgt, dann ist deren Unkenntnis immer ein entscheidendes Hindernis.

Das klassisch-humanistische Bildungsverständnis geht von einem Selbstbildungskonzept des Menschen aus: Formung und Entwicklung von Körper, Geist und Seele, von Begabungen und Talenten. Sie lässt jeden einzelnen zu Individualität und Identität gelangen, so dass er zu einem selbstbewussten und gleichberechtigten Teilhaber am Gemeinwesen und der jeweiligen Kultur wird. Das hat nicht unbedingt etwas mit dem Begriff des ›Wissens‹ zu tun, der im Terminus »Wissensgesellschaft« verwendet wird. Er geht nicht notwendigerweise mit formalen Abschlüssen einher. »Wenn Wissen Macht ist, wird es nicht dort zu finden sein, wo alle sind. Und wenn es dort ist, wird es keine Macht mehr sein.« (LIESSMANN 2006:54)

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Unserem Verständnis nach sind also Familien als bildungsfern zu bezeichnen, denen aus welchen Gründen auch immer die Teilhabe in unserem kulturellen, sozialen und/ oder materiellen Gesellschaftssystem nicht gelingt. Damit gehen Folgeprobleme wie Armut, Isolation, hohe Risiken bei der Entwicklung der Kinder, u.ä. einher. Für die Familienmitglieder ist die ganzheitliche Entwicklung durch die freie Entfaltung der in ihnen ruhenden Anlagen und Kräfte erschwert, wie sie die klassische Bildungsidee zum Ziel hat.

In dieser Definition wird der Begriff der Bildungsferne von uns unterstützt. So verstanden trifft er sehr gut auf die von uns untersuchte Zielgruppe zu und enthält zugleich viele konkrete Arbeitsansätze für die Arbeit mit diesen Familien.

Dennoch möchten wir zum Schluss einen weiteren Aspekt benennen. Diese Familien sind mindestens genauso »bildungsreich« wie »bildungsfern«: Wie wir in unserer Forschung erlebten, haben sie als Experten ihres Alltags viel Wissen und Kompetenz, was in erfolgreich arbeitenden Projekten respektiert und genutzt wird. In Handlungsansätzen wie z.B. der peer-Hilfe können sich die so genannten Bildungsfernen untereinander oft erfolgreicher unterstützen als ein bestens an der Kultur und Gesellschaft teilhabender Sozialpädagoge. »Bildung ist ein durchaus relativer Begriff.«, so ließ Friedrich Hebbel verlauten, »Gebildet ist jeder, der das hat, was er für seinen Lebenskreis braucht.« Auch wenn in der Sozialen Arbeit stets daran gearbeitet wird, die Bedarfslücken für den »Lebenskreis« der Familie zu schließen, darf nicht übersehen werden, wo innerhalb der Familie bereits wichtige und respektable Bildung eben für diesen »Lebenskreis« vorhanden ist. Dies sollte auch nicht in begrifflichen Beschreibungen vergessen werden, daher halten wir die eingeschränkte Formulierung der »so genannten bildungsfernen Familien« auch nach Erläuterung unseres Verständnisses des Begriffs für angemessener, wenn auch keineswegs für ideal.

Autor

von Tabea Witt

Seite 3: Fußnoten

(24) Natürlich trafen wir im Laufe der Forschung auch auf Migrant-(inn)en, die im erst-assoziativen Sinn ›bildungsfern‹ sind, sie können kaum schreiben oder haben nur wenige Jahre die Schule besucht.