Stadtteilmütter

Seite 1: Anfänge, doppelter Ansatz

Bereits der Name des Projektes gibt Aufschluss darüber, welcher Kerngedanke dahinter steht. Dem Sprachverständnis nach kann eine »Stadtteilmutter« eine Mutter aus dem Stadtteil sein oder eine Mutter für den Stadtteil. Auf das Projekt »Stadtteilmütter« trifft beides zu. Hier werden Mütter aus dem Stadtteil qualifiziert, um Familien im Stadtteil zu unterstützen.

In diesem Projektporträt zeigen wir zunächst, in welchem sozialräumlichen Kontext das Projekt entwickelt wurde, wie sein Arbeitsansatz funktioniert und welche Ziele es verfolgt. Dann präsentieren wir ein Praxisbeispiel, das Verlauf, Struktur und Methode des Projektes plastisch verdeutlicht. Abschließend werfen wir noch einen Blick in die Zukunft und beschreiben die aktuellen Pläne, dieses »Erfolgsprojekt« – so die Berliner Zeitung – in größerem Stil im Bezirk zu verankern. Grundlage unserer Ausführungen sind Interviews mit der Projektleiterin und mehreren semiprofessionellen Stadtteilmüttern sowie eine teilnehmende Beobachtung bei einem Treffen von Stadtteilmüttern und Nutzerinnen dieses Projektes.

Die Anfänge

Alles begann 2004 als Projekt des Diakonischen Werkes Neukölln-Oberspree e.V. im Quartiersmanagementgebiet Schillerpromenade. Der im Nordwesten Neuköllns gelegene Kiez gilt als Sozialraum mit erhöhten Bedarfslagen und Risikofaktoren. Der Anteil derjenigen, die Hilfe zum Lebensunterhalt beziehen, liegt bei 18,3 %. (16) Besonders von Armut betroffen sind Kinder und Nichtdeutsche. Sie erhalten zu 34,4 % bzw. zu 46,3 % Hilfe zum Lebensunterhalt.

Laut Neuköllner Kinder- und Jugendhilfebericht hat mehr als ein Drittel (37 %) der ca. 30.000 Einwohner keinen deutschen Pass. Ein Wert, der deutlich über dem Berliner Durchschnitt liegt (13,2 %). Auffällig hoch ist der Anteil der Nichtdeutschen bei Kindern und Jugendlichen. In der Altersgruppe der Sechs- bis 18-Jährigen haben ca. 50 % eine ausländische Staatsangehörigkeit. (17)

Jugendhilfeakteure weisen darauf hin, dass in der Schillerpromenade viele kinderreiche Familien leben, die mit ihrem Erziehungsauftrag überfordert sind. Die Kinder und Jugendlichen verbrächten viel Zeit auf der Straße. Sie würden sozusagen dort sozialisiert. (18) In der Tat nehmen weniger als 50 % der Kinder unter zehn Jahren Angebote der Kindertagesbetreuung wahr. (19)

Als Reaktion auf diese Bedarfslage entwickelte das Diakonische Werk das Projekt Stadtteilmütter. Als Vorlage diente das sogenannte Rucksackprojekt. Es stammt ursprünglich aus den Niederlanden, wird aber mittlerweile auch in vielen deutschen Städten praktiziert. Im Rucksackprojekt, das in Kooperation mit Kindertagesstätten durchgeführt wird, erhalten Mütter mit Migrationshintergrund eine Kurzausbildung und besuchen dann mit einem »Rucksack« voller zweisprachiger Materialien als Multiplikatorinnen andere Mütter mit Migrationshintergrund. Im Gegensatz zum Projekt Stadtteilmütter beziehen sich die Materialien einzig und allein auf die Sprachförderung. Dagegen sind die Themen, über welche die in Neukölln ausgebildeten Stadtteilmütter informieren, wesentlich breiter gestreut. Es gibt zehn Themenpakete, die jeweils Fragen aufgreifen, die im Alltag von Migrantenfamilien eine Rolle spielen. Hierzu zählen unter anderem: Erziehung, Bildung, Gesundheit, Sexualität, Einwanderung, Sprache, Arbeit, Recht und gezielte Förderung von Kindern und Jugendlichen.

Der doppelte Ansatz

Das Projekt Stadtteilmütter unterstützt die Familien im Stadtteil auf zweierlei Art. Zum einen durch die Vermittlung familienrelevanter Informationen an Mütter mit Migrationshintergrund, zum anderen durch die Qualifizierung und stundenweise Beschäftigung von Migrantinnen, die ihre Beratungstätigkeit auf Honorarbasis durchführen.

Im Sinne des doppelten Ansatzes wurden vom Diakonischen Werk folgende Projektziele formuliert:

  • Förderung der Sprachfähigkeiten von Kindern und Eltern
  • Ermutigung und Sensibilisierung der Eltern, ihre Erziehungsverantwortung aktiv wahrzunehmen
  • Vorstellung der Arbeit der Kindertagesstätten und Werbung für den frühen Kitabesuch
  • Wahrnehmung und Stärkung der Eigenpotenziale der Eltern
  • Vermittlung konkreter Hilfen und Informationen für Familien im Kiez und Bezirk
  • Förderung der Kommunikation und Interaktion zwischen Eltern und Kindern
  • Stärkung des Selbstbewusstseins der Eltern im Umgang mit den Bildungseinrichtungen
  • Qualifizierung und Förderung erwerbsloser Migrantinnen

Die Stadtteilmütter versuchen einen Zugang zu Familien zu finden, die als schwer erreichbar gelten. Hierzu die Projektleiterin: »Das sind Familien, die in keine Beratungsstellen gehen, die sonst die Türen zuknallen und keine Familienhelfer oder sonst jemand vom Jugendamt reinlassen.«

Im Projekt Stadtteilmütter gelingt die Kontaktaufnahme dagegen ziemlich gut, was daran liegt, dass die Stadtteilmütter aus dem gleichen Umfeld kommen. Sie leben im Stadtteil, haben den gleichen Migrationshintergrund wie die besuchten Mütter und haben zudem eigene Kinder. Als Peer-Beraterinnen arbeiten sie auf gleicher Augenhöhe. So fassen die Familien leicht Vertrauen und lernen vieles über Bildung, Sprache, Erziehung und Gesundheit dazu.

Die Projektleiterin erklärt: »Oft leben die Familien sehr zurückgezogen. Meistens kommen sie aus bildungsfernen Schichten. Das heißt, dass sie z.B. Material, das man ihnen zu lesen gibt, einfach nicht lesen. Aber wenn eine andere Mutter zu ihnen kommt und ihnen alles in einer sehr einfachen Sprache erklärt, dann zeigen auch diese Familien großes Interesse, sich zu informieren.«

Seite 2: Doppelter Ansatz, Hausbesuch

Neben diesem Anspruch niedrigschwelliger Informationsvermittlung verfolgt das Projekt auch das Ziel, interessierte Migrantinnen weiterzubilden und ihnen dadurch den Einstieg in den Arbeitsmarkt zu erleichtern. Viele Stadtteilmütter sind als Heiratsmigrantinnen nach Deutschland gekommen, andere sind hier aufgewachsen. Vor dem Projekt waren sie alle arbeitslos. Durch die Ausbildung zu semiprofessionellen Helferinnen haben sie eine gewisse berufliche Qualifikation und damit den Zugang zu einer entlohnten Beschäftigung erhalten. Auch ihre eigenen Erziehungskompetenzen sind deutlich gewachsen. Ihre neue Aufgabe und die Vorbildfunktion, die sie nun für andere Mütter im Stadtteil haben, stärken ihr Selbstbewusstsein, was sich wiederum positiv auf ihr Familienleben auswirkt.

Eine Stadtteilmutter erzählt: »Es stimmt wirklich, meine Persönlichkeit hat sich verändert. Ich habe viel mehr Selbstbewusstsein und kann auf andere Menschen besser zugehen und Kontakte finden.«

Eine zweite ergänzt: »Ich habe mich bei den Stadtteilmüttern weiter qualifiziert. Selbst wenn es keine großartige nachweisbare Qualifikation ist, habe ich trotzdem für die Erziehung meiner eigenen Kinder viel dazugelernt und kann das auch an andere Mütter weiterleiten.«

Die Projektleiterin bestätigt das: »Die Stadtteilmütter haben, als Frauen und als Mütter, eine sehr positive Entwicklung durchgemacht. Sie haben für ihr Erziehungsverhalten viel dazugelernt, sie sind alle viel selbstständiger und offener geworden. Sie sind in dieser Gesellschaft wirklich angekommen. Sie werden von ihren Männern bewundert, weil sie etwas geschafft haben, das von Frauen nicht erwartet wurde.«

Ein Hausbesuch

Um 11 Uhr morgens klingelt die Stadtteilmutter Frau Ghaban an einer Tür im dritten Stock eines Neuköllner Mietshauses. Sie ist Mitte vierzig, im Libanon geboren und war vor der Ausbildung zur Stadtteilmutter arbeitslos. Mittlerweile arbeitet sie schon fast ein halbes Jahr erfolgreich und sehr engagiert als Stadtteilmutter.

Heute besucht sie wieder einmal Frau Lubnani, eine Mutter aus dem Stadtteil. Den Kontakt zu ihr hat sie leicht gefunden, da es sich um eine Nachbarin handelt, die ebenfalls Libanesin ist – die beiden Frauen kannten sich bereits. Dies ist ein typischer Zugang zu Müttern innerhalb des Projektes: Um die Zielgruppe zu erreichen, nutzen die Stadtteilmütter die informellen Netze ihres eigenen Bekannten- und Freundeskreises. Darüber hinaus suchen sie auch an anderen Orten, wo sich Mütter typischerweise aufhalten, z.B. in der Kita oder auf Trödelmärkten nach Frauen, die Interesse haben könnten, sich »in Sachen Familie« zu informieren, auch wenn sie von alleine nie eine Beratungsstelle aufsuchen würden.

Frau Lubnani fand es zum Beispiel sehr interessant, zu erfahren, dass ihre Kinder das Recht auf die deutsche Staatsangehörigkeit haben. Da sie nur gebrochen Deutsch spricht und fast ausschließlich Kontakt zu anderen arabischen Frauen hat, hätte sie ohne ihre Stadtteilmutter womöglich erst Jahre später davon erfahren.

Als die etwa zehn Jahre jüngere Frau Lubnani die Tür öffnet, hat sie ein Baby auf dem Arm, ihr siebtes Kind. Freundlich begrüßt sie ihre Stadtteilmutter und bittet sie mit einer einladenden Geste herein. Man merkt gleich: Die besuchte Mutter fühlt sich als Gastgeberin, nicht als Klientin oder gar als Kontrollierte. Sie führt Frau Ghaban ins gemütlich eingerichtete Wohnzimmer und bittet sie, Platz zu nehmen.

Die Stadtteilmutter legt ihre Tasche auf den Tisch: Infozettel und Flyer auf Deutsch und Arabisch quellen heraus. Darin viele Tipps zu Themen wie Erziehung, gesunde Ernährung, sexuelle Aufklärung, Suchtprävention, eine Broschüre zum deutschen Schulsystem, Hinweise zur Verhütung von Unfällen bei Kindern, eine Liste aller Kindertagesstätten und anderer wichtiger Adressen für Familien. Frau Ghaban zeigt einen speziellen Flyer: »Ein Netz für Kinder – Surfen ohne Risiko.« »Der ist richtig gut«, kommentiert die Stadtteilmutter ihn und greift das Heft über Medienerziehung heraus, denn das ist das heutige Thema.

Insgesamt wird sie Frau Lubnani zehnmal besuchen, und jedes Mal steht ein anderes Thema im Fokus. Nach und nach geht es um alle möglichen Informationen aus den Bereichen Erziehung, Bildung, Gesundheit, Einwanderung, Sprache, Arbeit, Recht usw. Auch die Frage, wie man Kinder und Jugendliche gezielt fördern kann, gehört zum Programm. In welcher Reihenfolge die beiden sich über die verschiedenen Themen unterhalten, bestimmt Frau Lubnani. Je nachdem, was sie als Nächstes interessiert, das nehmen sie sich vor. Interessanterweise entscheiden sich viele der besuchten Mütter zuerst einmal für die Themen sexuelle Aufklärung, zweisprachige Erziehung und das deutsche Schulsystem, so die Leiterin des Projektes. »Das sind für viele die Highlights.«

Damit die Stadtteilmütter kompetente Ansprechpartnerinnen für diese Themen werden, durchlaufen sie eine mindestens sechsmonatige Ausbildung inklusive Praktikum. Dabei werden ihnen aktuelle Fakten und pädagogische Erkenntnisse zu den einzelnen Themen vermittelt. Zudem werden sie in Grundlagen der Erwachsenenbildung eingeführt und erfahren, wie sie ihr Wissen am besten weitergeben können. Hierzu gehört auch ein Training in Gesprächsführung.

Die meisten haben ihre Ausbildung in ihrer Muttersprache erhalten. Das macht insofern Sinn, als sie ihre Tätigkeit als Stadtteilmutter ebenfalls in ihrer Herkunftssprache ausüben sollen. Außerdem konnten so auch Frauen an der Ausbildung teilnehmen, die erst im Erwachsenenalter nach Deutschland kamen (wie z.B. viele Heiratsmigrantinnen) und noch nicht so gut Deutsch verstehen.

Seite 3: Hausbesuch, Ausblick

Eines der Lieblingsthemen der Stadtteilmutter Frau Ghaban ist »Der Besuch einer Kindertagesstätte.« Sie berichtet von den Vorbehalten der Familien, ihre Kinder in einer Kita anzumelden: »Wenn ich mit ihnen am Anfang darüber spreche, haben sie erst einmal etwas dagegen. ›Warum soll ich meine Kinder dorthin schicken? Ich habe doch genug Zeit, um selber auf sie aufzupassen. Außerdem müssen wir Geld sparen …‹ Das sind die typischen Argumente. Dann sage ich: ›Wo sparst du denn da Geld? Sag doch mal bitte! Das ist doch eigentlich gar nicht so. Wenn du selbst ein Spielzeug kaufst, ist das ganz schön teuer, oder? Aber im Kindergarten kann dein Kind mit ganz vielen verschiedenen Spielzeugen spielen‹.«

Mittlerweile ist Frau Ghaban dabei, unterstrichen von einer lebendigen Gestik, viele Fragen zum heutigen Thema Medienerziehung anzusprechen: Wie lange sollten Kinder maximal vor dem Fernseher sitzen? Welche Sendungen sind gut? Warum schadet zu viel Fernsehen? Dann lässt sie nicht nur für die Eltern, sondern auch für die Kinder etliche Materialien da.Neben den inhaltlichen Themen bleibt den beiden Frauen auch genug Zeit für Aktuelles und Persönliches. Gerade wenden sie sich dem kleinen Sohn zu, der die beiden Frauen die ganze Zeit über friedlich beobachtet. Frau Ghaban freut sich offensichtlich sehr, das Baby wiederzusehen, redet freundlich mit ihm und küsst ihn. Die Mutter sitzt daneben und lacht stolz. So ergibt sich ein Gespräch über das Baby. Die Mutter macht sich Sorgen, weil es noch keine Zähne hat. Doch da kann die Stadtteilmutter sie beruhigen. Das wäre in dem Alter noch ganz normal.

Dann ist die Stunde für heute um, die Zeit ist mal wieder sehr schnell vergangen. Frau Lubnani begleitet ihre Stadtteilmutter zur Tür. Dort gibt es eine herzliche Verabschiedung mit den unter arabischen Freundinnen üblichen Küsschen.

Auch nach dem zehnten Treffen wird die Unterstützung für Familie Lubnani nicht unbedingt abrupt abbrechen. Oft vermittelt Frau Ghaban die von ihr betreuten Mütter zu anderen sozialen Angeboten weiter und erleichtert ihnen dort den Zugang. So gibt es z.B. eine neu aufgebaute offene Donnerstagsgruppe im Interkulturellen Elternzentrum. Dorthin sind Stadtteilmütter und besuchte Mütter gleichermaßen eingeladen. Die Frauen können gemeinsam kochen, spielen oder über alles Mögliche diskutieren. So ging es beispielsweise bislang um so bunte Themen wie Bundestagswahlen, Hitler und Nationalsozialismus, Schadstoffe im Gemüse u.v.a.m. Vielleicht kommt aber für Frau Lubnani auch ein Deutschkurs infrage oder eine Elternschule in ihrer Muttersprache. Dies wird sie sich im Laufe der nächsten Wochen gemeinsam mit ihrer Stadtteilmutter überlegen.

Der Ausblick

Das Projekt Stadtteilmütter hat sich im Quartiersmanagementgebiet Schillerpromenade sehr bewährt. Der Zugang zu interessierten Müttern mit Migrationshintergrund ist kein Problem, weil es keine Sprach- oder Kulturhürden zu überwinden gibt. Die Akzeptanz von Veränderungsvorschlägen ist groß, weil man sich von einer Stadtteilmutter, die die Lebenssituation mit einem teilt, lieber etwas sagen lässt als von Außenstehenden.

Nachdem sich das Projekt herumgesprochen hatte und von Frau zu Frau weiterempfohlen wurde, war der Andrang von Müttern, die eine »Stadtteilmutter« zu sich einladen wollten, von den bis zu diesem Zeitpunkt zwanzig qualifizierten Stadtteilmüttern gar nicht mehr zu bewältigen. Der Neuköllner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky bezeichnete das Projekt als das erfolgreichste, das er in Berlin zum Thema Integration kennt.

Da die oben geschilderten Bedarfslagen nicht nur in der Schillerpromenade zu finden sind, wurde mittlerweile beschlossen, das Projekt auf alle neun Quartiersmanagementgebiete mit ca. 200 Stadtteilmüttern auszuweiten. Kooperationspartner der Umsetzung und Finanzierung sind die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, das Bezirksamt Neukölln, das Jobcenter, der Beschäftigungsträger Wille e.V. und das Diakonische Werk.

Seite 4: Fußnoten

(16) Vgl. BEZIRKS-AMT NEUKÖLLN  (Hg.), 2003a:25

(17) Vgl. ebd., S. 20

(18) Vgl. ebd., S. 27–38

(19) Vgl. ebd., S. 25

(20) Um einen plastischen Eindruck von den Hausbesuchen zu vermitteln, greifen wir eine Radioreportage auf, die der Deutschlandfunk Kultur am 4.1.2007 über das Projekt gesendet hat und verdichten die Schilderung sowie einige wörtliche Zitate in dieser Schilderung. Alle Namen sind geändert.