Astroturfing: Zwei Beispiele aus der Praxis

Zu den offensiven Maßnahmen von Unternehmen gehört es auch, gezielt unternehmensnahe zivilgesellschaftliche Initiativen aufzubauen oder zu fördern. Die dahinterstehende Taktik wird als Astroturfing bezeichnet, dem englischen Begriff für Kunstrasen.  Darunter versteht man das künstliche Nachahmen einer Graswurzel-Bürgerbewegung oder Bürgerinitiative im Auftrag von Unternehmen, PR-Firmen oder politischen Institutionen. Ziel dieser Taktik ist es, den eigenen Interessen mehr Glaubwürdigkeit zu verschaffen.

Außerdem lässt sich so der Eindruck erwecken, dass das jeweilige Thema in der Zivilgesellschaft selbst umstritten ist. Ein aus Unternehmenssicht angenehmer Nebeneffekt: Die öffentliche Wirkung und Glaubwürdigkeit der realen und im Themenfeld etablierten Bürgerinitiativen wird dadurch geschwächt.

Die verdeckte Privatisierungskampagne der Deutschen Bahn

Die Deutsche Bahn betrieb 2007 mithilfe prominenter Unterstützer/innen selbst umfassende Lobbyarbeit für die Bahnprivatisierung. Dagegen gab es große zivilgesellschaftliche Proteste, u.a.  durch das Bündnis »Bahn für alle«. In dieser Situation tauchten in Medien und Online-Foren Stimmen auf, die sich für die Privatisierung des Konzerns aussprachen. Diese Äußerungen wurden durch die Denkfabrik »Berlinpolis« lanciert.

Auf Anfrage bestritt Berlinpolis damals, dass es eine Verbindung zur Deutschen Bahn gab. Zudem trat eine vermeintliche Bürgerinitiative pro Bahnprivatisierung auf, allerdings nur online über eine heute nicht mehr existente Internetseite. 2009 konnte die NGO LobbyControl enthüllen, dass hinter den Aktivitäten von Berlinpolis sehr wohl die Deutsche Bahn stand. Das Unternehmen räumte ein, für 1,3 Mio. Euro eine verdeckte Kampagne in Auftrag gegeben zu haben.

Auftragnehmer war die Lobbyagentur »European Public Policy Advisors GmbH« (EPPA), die wiederum Berlinpolis beauftragte. Auch die vermeintliche Bürgerinitiative tauchte in den Berichten von EPPA an die Bahn auf. Es handelte sich also nicht um eine echte Bürgerinitiative, sondern um eine künstliche Initiative.

Das Ziel war offensichtlich, die Argumente für die Bahnprivatisierung über Berlinpolis als vermeintlich unabhängiger Denkfabrik mit mehr Glaubwürdigkeit in die Öffentlichkeit zu spielen. Die falsche Bürgerinitiative pro Privatisierung sollte den Eindruck erwecken, dass es in der Gesellschaft auch aktive Unterstützung für die Bahnprivatisierung gab. Auf diese Weise sollte die Wahrnehmung des Konflikts verändert werden: Er sollte nicht mehr als klarer Konflikt Bahn vs. Öffentlichkeit erscheinen, sondern als Konflikt zwischen Teilen der Zivilgesellschaft plus Bahn.

Tipp

Hinter dem Ansatz des Astroturfings steckt (meist) folgende strategische Konstellation: Die Ressourcen der Unternehmen und Verbände in Form von Finanzen und Kontakten zur Politik übersteigen bei Weitem die Mittel echter Bürgerinitiativen. Es mangelt ihnen aber an Glaubwürdigkeit und Mobilisierungsfähigkeit. Diese Schwächen sollen durch inszenierte Initiativen ausgeglichen werden. Deren Glaubwürdigkeit lebt jedoch davon, dass die Unternehmensstrategie dahinter unsichtbar bleibt. Deshalb musste die PR-Kampagne verdeckt ablaufen. Das war wegen der mangelhaften Transparenz-Regeln in Deutschland leicht möglich.

Die Enthüllung schadete zwar der Bahn – aber erst im Nachhinein, als bereits eine Teilprivatisierung beschlossen worden war.

Initiative Pro Braunkohle

Ein aktuelleres Beispiel ist die Initiative »Unser Revier - Unsere Zukunft« im rheinischen Braunkohlerevier. Der Energiekonzern RWE baut dort in großen Tagebauen Braunkohle zur Verstromung ab. Aufgrund der Landschaftszerstörung und der hohen CO2-Emissionen regt sich  dagegen zunehmend Protest. Die Initiative »Unser Revier – Unsere Zukunft« tritt seit 2015 als Bürgerinitiative pro Braunkohle auf und somit als Gegenspieler zu den kohlekritischen Protestgruppen.

Bei genauerem Hinsehen zeigen sich allerdings enge Verbindungen der Initiative zur Braunkohle-Lobby. Führende Vertreter des Bundesverbands Braunkohle (DEBRIV) und des Rings Deutscher Bergingenieure (RDB) spielten eine wichtige Rolle bei der Vereinsgründung. Die Adresse der Initiative ist ein Postfach des  Bundesverbands. Interessant ist auch die Beteiligung eines Lobbyisten des Aluminiumkonzerns Hydro, der seit langem als Anwalt Anti-Windkraft-Initiativen berät. Er bringt somit Erfahrung mit, wie man Bürgerinitiativen zum Nutzen von Industrie-Interessen fördern kann.  Die Initiative stigmatisierte Gegner/innen bei einer Kundgebung einer Woche nach den großen Protesten gegen Braunkohle im August 2015 (»Ende Gelände«). Dabei zeigte sie den »Chaoten« eine »Rote Karte«.

Der zweite Schwerpunkt der Initiative ist die Beteiligung an politischen Prozessen, etwa bei einer Online-Konsultation zum Tagebau Garzweiler II oder am Dialog zum Klimaschutzplan 2050. Dabei zeigen sich deutliche inhaltliche und textliche Übereinstimmungen zu Positionen des Bundesverbands Braunkohle. Die Stellungnahme zu Garzweiler II wendet sich etwa mit den gleichen Forderungen und Argumenten wie der Bundesverband Braunkohle gegen eine Verkleinerung von Garzweiler II. »Unser Revier« verstärkt so die Positionen der Braunkohle-Lobby durch eine vermeintlich zivilgesellschaftliche Stimme.

RWE wirbt zugleich mit Instrumenten wie Nachbarschaftszeitungen und einer eigenen Studie für Akzeptanz. Eigene Interessen werden darin zum Gemeinwohl-Interesse uminterpretiert, Gegenmeinungen zum wenig rationalen Partikularinteresse reduziert.

Tipp

Hier zeigt sich eine Mehrfachstrategie: Einerseits versucht man Menschen für sich zu gewinnen und einzubinden, andererseits sollen kritische Proteste delegitimiert werden. Und gegenüber der Politik und der Öffentlichkeit soll die Illusion einer unabhängigen Bürgerbewegung pro Braunkohle mehr Glaubwürdigkeit für die Forderungen der Braunkohle-Lobby bewirken. Das funktioniert aber nur, wenn die ökonomischen Interessen dahinter, also die engen Verbindungen zu den Verbänden der Braunkohle-Industrie, nicht klar sichtbar sind.