Kraft, Aggressivität, Gewalt

Seite 1: Kraft, Aggressivität

Kraft

Kraft bedeutet handeln, sich kräftig einschalten. Die Kraft kann positiv oder negativ sein. Wir sprechen von der Kraft militärischer Zerstörung, einer zerstörerischen physischen Kraft oder der Kraft der Propaganda, die die Gedanken der In-dividuen manipuliert. In diesem Sinn ist Kraft negativ: sie ist gegen das Wohl der menschlichen Person gerichtet.

Aber es gibt ebenfalls die Kraft der Liebe, der Wahrheit oder der Gerechtigkeit. Kräfte also, die konstruktiv sind. Kraft wird oft mit Gewalt verwechselt. Deshalb muss man klar unterscheiden zwischen der Kraft, die aufbaut, und der, die zerstört. Die aktive Gewaltfreiheit ist die höchste moralische und politische Kraft, die dem Aufblühen der Menschheit dient.

Aggressivität

Die Aggressivität ist zunächst eine instinktive Kraft in uns. Wenn wir »Instinkt« sagen, so meinen wir damit eine »Kraft zur Erhaltung des Lebens« . Der Instinkt ist beim Tier eine Kraft, die das Leben beschützt. Diese Kraft ist gesund und notwendig. Beim Tier dient sie als regulative Lebensfunktion: der Hungerinstinkt treibt es dazu, zu fressen, der Sexualinstinkt zur Arterhaltung und der aggressive Verteidigungsinstinkt hat das gleiche Ziel. Die Beobachtung ist bedeutsam, dass das Tier seine Instinkte nicht missbraucht. Selbst bei der aggressiven Verteidigung ist es so, wie Untersuchungen bei Wölfen gezeigt haben, dass der Sieger den Unterlegenen nicht tötet und ihm eine Fluchtchance gibt, wenn es zum Kampf zwischen zwei männlichen Wölfen kam, die ihre Wölfinnen verteidigten. Die Aggressivität beim Tier dient also dem Schutz des Lebens oder der Art.

Wir Menschen brauchen gleichfalls gesunde Instinkte, um zu leben. Solche Kinder, die sich bei einem Angriff durch andere nicht verteidigen, sind oft krank oder psychisch unausgeglichen. Es fehlt ihnen der natürliche Verteidigungsinstinkt.

Aber oft verderben wir die Instinkte, wenn wir unseren Verstand sprechen lassen. Wir benutzen sie dann nicht mehr zum Respekt des Lebens, sondern auf zerstörerische Weise, uns selbst und anderen gegenüber: Wir essen zu viel, wir missbrauchen unseren Sexualinstinkt. Hinsichtlich der Verteidigung wissen wir sehr gut, wie das so geht: Wir demütigen nicht nur den anderen und zermalmen ihn, wir bereiten sogar die Zerstörung der ganzen Menschheit vor.

Beim Menschen gibt es viele Ursachen für die Aggressivität. Die wichtigste Ursache ist vielleicht die Angst, die Angst um seinen Platz und um das, was der Mensch zum Leben braucht – Arbeit, Wohnung, Kultur, Religion – und die Angst, nicht genügend Wertbewusstsein, Respekt, Liebe zu erfahren. Man muss also sehen, dass die Aggressivität als Kraft, die das Leben beschützt, positiv ist, wenn sie ein Kampf ist, um alle Dimensionen des eigenen Lebens und das der anderen zu erhalten. Aber Aggression wird dann negativ, wenn sie sich bei diesem Kampf jener Mittel bedient, die das eigene Selbst und den anderen zerstören. Deshalb sagen wir nicht, dass man in der Gewaltfreiheit die Aggressivität ausschalten muss.

Vielmehr muss man sie so kanalisieren oder orientieren, dass sie eine aufbauende und befreiende Kraft wird, d.h. für uns und die anderen eine gewaltlose Kraft darstellt.

Es gibt gewiss auch eine perverse Aggressivität, die egoistische Ziele verfolgt, d.h. eine, die individuell oder kollektiv wirtschaftliche, politische, religiöse, machtmäßige oder andere Privilegien verteidigt. Wie alle übrigen Ungerechtigkeiten auch, muss eine solche Aggressivität mit Strategien einer gewaltfreien Aktion bekämpft werden.

Seite 2: Gewalt, Gleichgültigkeit

Gewalt

Die Gewalt ist ausnahmslos eine zerstörerische Kraft. Eine Kraft, die herabsetzt, die verwundet, die sich selbst oder den anderen zerstört. Sie ist die Weigerung, die eigene Würde und die des anderen anzuerkennen. Sie giert danach, sich die Eigenschaften des anderen anzueignen (Besitz, Wissen, Werte, etc.), sie will den anderen ausbeuten und beherrschen.

Oft wurzelt unsere Gewalt in der Angst: Die Angst, nicht angenommen zu werden, die Angst, Werte oder angehäufte Güter zu verlieren. Diese Angst führt dann dazu, dass man ein Negativbild des anderen entwickelt, dass man nicht mehr das Gute in ihm sieht, dass der andere als Sündenbock herhalten muss, auf den man seine eigene Gewalt projiziert. Zu seiner persönlichen »Verteidigung« entwickelt man ein ganzes Waffenarsenal und tritt in eine unendliche Spirale gewaltsamer Mittel ein.

Es gibt verschiedene Formen der Gewalt. Man unterscheidet die persönliche und zwischenmenschliche Gewalt von der so genannten strukturellen Gewalt. Letztere umfasst alle Formen der Gewalt, die es in den Konzepten und Strukturen unserer Institutionen gibt: In unseren Gemeinschaften, in den wirtschaftlichen, politischen, sozialen und militärischen Institutionen, in unseren Kirchen und unseren Schulen ebenso wie in der derzeitigen Situation der Frauen.

Man kann gleichfalls die physische Gewalt von der psychologischen Gewalt unterscheiden. Die erstere braucht man nicht zu erläutern. Die psychologische Gewalt aber enthüllt sich in der augenblicklichen Situation als eine der zerstörerichsten und gefährlichsten Kräfte der Gewalt. Sie versucht den Menschen von Kindheit an durch verschiedene Einflüsse zu manipulieren – Massenmedien, Schulen, etc. – und ihn in unsere materialistische und egoistische Konsumgesellschaft zu integrieren.

Dann gibt es sichtbare Formen der Gewalt, als solche deklariert, und die möglichen, die latenten. Auf diese verborgenen Gewalten müssen wir sehr achten. In unserer Arbeit haben wir oft gesehen, wenn eine Gewalt anlässlich eines sozialen, rassistischen oder politischen Problems zum Ausbruch kam, dass die Polarisierung schon äußerst stark war, weil die Gewalt sich wegen der bestehenden Ungerechtigkeit seit langem vorbereitete. Deshalb müssen wir handeln, sobald wir eine verborgene Ungerechtigkeit entdecken. Wir müssen die Ersten sein, die das ans Tageslicht bringen und uns engagieren, damit dieser Konflikt friedlich gelöst wird, bevor es zu spät ist.

Es gibt Abstufungen bei den Gewalten. Es gibt solche, die weniger verwunden, und andere, die physisch oder psychisch bis zur Zerstörung von Menschen und Gruppen, ja von Nationen und der ganzen Menschheit gehen können. Deshalb müssen wir darauf bestehen: Jede Gewalt ist negativ, weil sie gegen das Wohl und das Leben des Menschen gerichtet ist.

Ein bekannter Forscher, Johann Galtung vom norwegischen Institut für Friedensforschung, definierte die strukturelle Gewalt wie folgt: »Gewalt liegt überall dort vor, wo Menschen derart beeinflusst werden, dass ihre gegenwärtige physische und geistige Verwirklichung hinter dem zurücksteht, was sie zu einer gegebenen Zeitepoche sein könnte. Gewalt ist also die Ursache des Unterschiedes zwischen dem, was möglich ist, und dem tatsächlichen Zustand.«

Gleichgültigkeit – Passivität

Passivität ist die Haltung, freiwillig die Augen vor einer Ungerechtigkeit zu schließen, die wir haben beobachten können. Ghandi nannte das »niedrigste Haltung« : sich der Ungerechtigkeit unterwerfen, nicht unsere Verantwortung als Mensch übernehmen, um gegen ein Unrecht zu kämpfen. Das bedeutet nämlich, dass eine passive Person immer ein großer oder kleiner tragender Pfeiler einer bestehenden Ungerechtigkeit ist.

Man verwechselt oft friedlich mit passiv. Wenn zum Beispiel in einer Fabrik eine Person sich niemals gegen Ungerechtigkeiten wendet, die sie entdeckt, dann sagt man wohl, sie sei sehr friedlich. Doch das Gegenteil ist wahr: Diese Person ist passiv, sie lässt zu, dass Ungerechtigkeit existieren kann. Das aber ist das genaue Gegenteil einer Arbeit für den Frieden.

Was sind die Ursachen unserer Passivität? Wir haben uns nicht selten einer Situation angepasst, vielleicht profitieren wir gar von ihr. Und wir wissen sehr gut, dass wir etwas riskieren, wenn wir Stellung beziehen. Es ist die Angst vor den Konsequenzen, falls wir uns gegen eine Ungerechtigkeit erheben, die uns untätig werden lässt. Ja, es ist vor allem die Angst, die uns passiv macht: Etwa die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren; auch die Angst, dass es dann bei Ehepaaren oder in den Familien »zum Knall kommt« oder dass man doch keine Lösung findet. In der »Dritten Welt« ist es die Angst vor Repression, die die harten Regierungen triumphieren lässt.

Ein anderer Faktor bei der Passivität ist die Komplexität von Unrechtssituationen, wie wir sie gegenwärtig sehen. Man erkennt einfach nicht, wie man handeln, wie man sich den sehr komplexen Ungerechtigkeiten entgegenstellen könnte.

Das schafft ein Gefühl, vor dem Unrecht ohne Kraft zu sein, ohne geeignete Mittel dazustehen. Oft ist es diese Situation, die auf ganzen Völkern lastet und sie untätig werden lässt.

Erinnern wir uns angesichts dieser Situation an das Wort aus der Apokalypse (3,16): »Weil du lau bist...spucke ich dich aus.« Gott will, dass wir Stellung beziehen. In uns selbst muss es ein ständiges Bemühen geben, aus unserem Herzen und Bewusstsein diese Haltung der Passivität herauszureißen: Die Anstrengung nämlich, Konflikte, Meinungsverschiedenheiten, Ungerechtigkeit oder Gewalt nicht weiter brüten zu lassen, sondern danach zu trachten, diese Probleme wirklich anzusprechen. Passivität stützt und verstärkt die Ungerechtigkeit und lässt sie noch größer werden.

Seite 3: Gegengewalt

Gegengewalt

Die Gegengewalt ist der Passivität überlegen. Denn die Person, die Gruppe oder das Volk, die zur Gegengewalt greifen, erheben sich und bieten der erlittenen Ungerechtigkeit oder Gewalt mit dem Ziel die Stirn, eine gerechtere, wahrere und friedlichere Lage herzustellen. Die Gegengewalt kann folglich ein gutes Ziel haben: sie will eine Unrechtssituation überwinden.

Anfangs ist sie oft instinktiv, spontan, nicht überlegt. Doch sie wird sehr schnell eine gut überlegte, durchorganisierte und folglich gewollte Gegengewalt. Sie wird uns übrigens durch unsere Tradition, durch die Medien und selbst durch die Kirchen gelehrt. Wenn eine Person, eine Gruppe oder ein Volk Ja sagen zur Gegengewalt, so geschieht dies oft, weil sie keinen anderen Weg kennen, um gegen die schwere Ungerechtigkeit, die sie erleiden, zu kämpfen. Erinnert sei hier an den Guerillakrieg. Wir lehnen die gewalttätigen Mittel, die bei solchen Aktionen angewendet werden, strikt ab, doch wir verstehen, warum man zu einer solchen Handlungsweise greift. Dies zugestanden müssen wir jedoch unverzüglich die Logik von Gewalt und Gegengewalt deutlich machen, ebenso die Unvereinbarkeit zwischen einem guten Ziel und schlechten Mitteln.

Heben wir einige wichtige Punkte hervor, die die Logik der Gewalt entlarven, denn die Überzeugung, dass Gegengewalt die wirksamste Kraft im Kampf gegen Unrecht sei, ist in uns und in unserer Gesellschaft tief verwurzelt.

Die Spirale der Gewalt

Um die Logik aufzuzeigen, wie bei Gegengewalt die Kampfmittel sich immer mehr verschärfen, wollen wir ein sehr einfaches Beispiel nehmen: Ein Kind hat ein schönes Spielzeug. Ein anderes stärkeres Kind nimmt es ihm weg. Das Kind, dem die Gewalt widerfahren ist, sagt sich dann gewöhnlich: »Das ist ungerecht, ich will mein Spielzeug wieder nehmen.« Aber was macht es dann, wenn es sieht, dass das andere Kind größer und stärker ist? Es wendet sich an Kameraden und zu zweit oder zu dritt rennen sie zu dem Kind, das das Spielzeug genommen hat. Wenn dieses nun die drei Kinder auf sich zukommen sieht, sagt es sich: »Aber ich, ich bin allein, und das ist ungerecht!« Und es geht ebenfalls Hilfe suchen, um das Spielzeug zu verteidigen.

Dies zeigt gut auf, dass wir in den Druck und Vernichtungsmitteln stets ein wenig stärker sein müssen als der andere, wenn wir die Gerechtigkeit mit Gegengewalt wieder herstellen wollen. So geraten wir in eine Spirale, bei der die Mittel immer schwerer werden. Das aber ist die Logik der Gewalt.

Wir beobachten dies in den kleinen lokalen militärischen Konflikten und bei den derzeitigen brutalen Wirtschaftskriegen. Es war besonders auffällig bei der Aufrüstung: Jeder der beiden »Blöcke« behauptete immer wieder, der andere sei ein wenig stärker und man müsse sich ein neues System von Abschreckungswaffen anschaffen. So waren wir in eine schier endlose Spirale hinein geraten, die Milliarden Dollar und Ressourcen kostete, die dem Leben der Armen hätte dienen können.

Sich die Mittel aufzwingen lassen - Verrat an der Achtung der menschlichen Person

Sich für Gegengewalt zu entscheiden, bedeutet auch, sich vom Angreifer die Kampfmittel diktieren zu lassen. Wer gewalttätige Mittel wählt, lässt sich von der Verachtung und dem fehlenden Respekt vor der menschlichen Person anstecken. Er willigt ein, sich solcher Mittel zu bedienen, die den anderen heruntermachen, ihn zerstören. Der Gewalttätige zwingt uns seine Mittel und seine Art zu denken und zu sein auf und zerstört damit unsere tiefsten Überzeugungen und Ideale.

Ein folgenreiches Beispiel: In ihrem Kampf gegen Hitler, der Konzentrationslager einrichten ließ und abscheuliche, ja unvorstellbare Verbrechen begangen hat, griffen die Nationen zu den modernen Waffen, sie bombardierten offene Städte und nahmen den Tod von Millionen Zivilisten in Kauf. Was heißen will, dass der Virus der schlimmsten Nazi-Haltungen auch die angesteckt hatte, die gegen Hitler kämpften. Bei den Kolonialkriegen in Algerien (1955–1961) und Indochina (bis 1975) ist die Folter erneut aufgebrochen. Und Amnesty hat bewiesen, dass diese noch heute in wenigstens achtzig Ländern praktiziert wird.

Uns wird hier die Verbindung sehr deutlich, die zwischen den schlechten Mitteln, unserem Verhalten und dem Ziel besteht: Wir zerstören uns selbst, wir stecken uns mit dem Bösen an, das zu tun wir akzeptieren, und wir verderben das gute Ziel.

Der aufgezwungene Sieg ist eine Scheinlösung. Was geschieht, wenn in einem Kampf, der mit gewalttätigen Mitteln geführt wurde, diejenigen, die als erste Gewalt erlitten und dann zur Gegengewalt griffen, einen Sieg über den Angreifer erringen? Ein Beispiel: Als unsere Kinder noch jung waren, verhielten sie sich gelegentlich ungerecht. Als Eltern sollten wir ihnen helfen, allmählich ihre Haltung zu ändern. Es kam dann wohl vor, dass ich »gestresst« war und mir nicht die Zeit genommen habe, mich zu fragen, wo meine Verantwortung in dieser Situation war, die mein Kind aber als Gewalt empfand. Was geschieht dann in diesem Fall? Wir sind beide geschmälert: Mein Kind konnte in seinem Gewissen nicht die Ungerechtigkeit besiegen, die es begangen hatte, es konnte sich weder ändern noch wachsen. Und weil ich zur autoritären Gewalt griff, habe ich mich selbst herabgesetzt, ich bin gewalttätiger geworden.

In den kleinen und großen Konflikten verhindert jeder aufgezwungene Sieg, dass sich Haltungen ändern, und er ist deshalb nur ein Scheinsieg. Ungerechtigkeit oder Gewalt brechen sehr schnell wieder auf, manchmal sogar verstärkt. Man beobachtet das auch in den Befreiungskämpfen: je mehr gewalttätiger Kampf im Verlauf aufkommt, desto weniger lässt sich das Ziel erreichen, eine gerechtere Gesellschaft mit mehr Achtung vor der menschlichen Person zu erwirken. Bei einer aufgezwungenen Lösung haben nämlich die früher Privilegierten ihre Haltung nicht geändert, sie werden sofort versuchen, die Gegenrevolution vorzubereiten. Erneut braucht man zu ihrer Überwachung eine starke Polizei und ein starkes Regime. Und selbst bei einem gewissen Fortschritt geht die Spirale der Gewalt weiter.

Wegen dieser Logik und dieser Wahrheit lehnen wir eine solche Form des Kampfes ab, die unfähig ist, eine wirkliche Lösung herbeizuführen. In der Menschheitsgeschichte haben wir unter dieser Kette von Gewalt und Gegengewalt gelitten, die das Leben der Völker zu allen Zeiten durchzieht. Deshalb wurden ein anderer Weg, andere wirksamere Mittel gesucht, um der Ungerechtigkeit zu widerstehen und sie wirklich an ihrer Wurzel zu besiegen. Diese Suche zeigt uns die aktive Gewaltfreiheit.

Seite 4: Aktive Gewaltfreiheit

Aktive Gewaltfreiheit

Sie ist die dritte mögliche Antwort auf das Unrecht. Jeder Mensch trägt sie in sich, welches auch seine Herkunft, seine Religion oder seine Kultur sein mag.

Terminologie: AHIMSA – SATYAGRAHA

Wenn wir den Ausdruck »Gewaltfreiheit« benutzen, dann verwenden wir ein Wort, dass nur »Nein« zur Gewalt sagt, aber es drückt nicht die konstruktive Kraft eines solchen Konzeptes aus. Gewaltfreiheit, Nicht-Gewalt, ist die Übersetzung des Wortes ahimsa, das Gandhi benutzte und das sagen will: kämpfen, sich engagieren für die Gerechtigkeit ohne himsa, das heißt ohne eine Kraft, die den Gegner zerstört, ohne Gewalt. Doch wenn wir die Gewalt als Mittel des Kampfes ablehnen, dann müssen wir sie durch eine andere Kraft ersetzen. Für Gandhi ist diese andere Kraft: satyagraha = die Kraft der Wahrheit, die Kraft der Seele. Für uns Christen kann man hinzufügen: die Kraft der Gerechtigkeit, die Kraft der Liebe. Leider ist diese positive Kraft in unserem Wort »Gewaltfreiheit« nicht erkennbar. Aber wenn wir Gewaltfreiheit sagen, müssen wir sie immer mit ahimsa und satyagraha verbinden.

Perspektive der aktiven Gewaltfreiheit

Bei der aktiven Gewaltfreiheit haben wir eine ganz andere Perspektive als die der Gegengewalt. Wir lehnen eindeutig die Passivität ab, ebenso entschieden die Gewalt als Mittel des Kampfes. Wir ersetzen sie durch die Macht der Wahrheit, der Gerechtigkeit und der Liebe. So sieht die Perspektive der aktiven Gewaltfreiheit aus: Sehen, die Ungerechtigkeit in ihrem ganzen Umfang analysieren; kämpfen, um diese Ungerechtigkeit zu besiegen und davon nicht nur ihre Opfer zu befreien, sondern auch jene, die in erster Linie dafür verantwortlich sind. Was bedeutet, die Ungerechtigkeit zu besiegen, den Unterdrückten und den Unterdrücker zu befreien.

Bei der Gegengewalt identifiziert man im Kampf den Gegner mit der Ungerechtigkeit, die er begangen hat, man geht so weit, dass man ihn tötet, um die Ungerechtigkeit zu besiegen. Bei der aktiven Gewaltfreiheit geschieht das Gegenteil, wir trennen Personen oder Gruppen von dem Übel, das sie anrichten. Mit Strategien der Nicht-Zusammenarbeit (non-coopération) kämpfen wir, um die Ungerechtigkeit zu besiegen, um ihre Fortdauer unmöglich zu machen. Doch gleichzeitig engagieren wir uns, um die Haltungen der dafür Verantwortlichen umzuwandeln. Die Täter sind in diesen Befreiungsprozess eingeschlossen. Indem man das Übel im Gewissen wandelt und neue Haltungen schafft, wird eine wirkliche Umwandlung der Unrechtssituation und gleichzeitig Versöhnung möglich.

Die Sicht des Menschen in der Gewaltfreiheit

Die aktive Gewaltfreiheit erfordert eine ganz spezielle Sicht des Menschen und des Lebens der Gesellschaft. Dabei können wir mehrere wesentliche Punkte wahrnehmen:

Der Mensch ist der höchste Wert unter allem, was existiert, was erschaffen wurde. Ihn muss man absolut und ausnahmslos respektieren. Alle anderen Werte müssen dem menschlichem Leben dienen. Umgekehrt aber trägt der Mensch die Verantwortung für die Bewahrung der Schöpfung und der Welt.

Jeder Mensch hat ein Gewissen. In seinem Innern wohnt die Möglichkeit, eine Wahl zu treffen, sich zu ändern. Dieses Gewissen kann schlecht gebildet, unterentwickelt oder verbildet sein, aber es existiert und kann wachsen, wenn es mit der Wahrheit konfrontiert wird. Deshalb müssen wir uns von der Haltung befreien, wie etwa: »Dieser Mensch gehört zu dieser oder jener Partei, oder zu jener Kultur, Klasse, usw. Dieser Mensch kann nicht verstehen, kann sich nicht ändern!«

Der gewaltfreie Kampf ist wesentlich eine Frage des Gewissens. Ein tiefer und unerschütterlicher Glaube in die menschliche Fähigkeit, sein Gewissen zu öff-nen, ist die Grundlage jedes gewaltfreien Engagements. Wenn sich im August 1968 junge tschechische Marxisten vor die russischen Panzer stellten, mit bloßen Händen, so deshalb, weil sie ganz fest glaubten, dass der andere, der russische Soldat, ein Gewissen hat, das angerührt werden kann.

Die Bereitschaft, den Preis zu bezahlen, ist eine andere Forderung der aktiven Gewaltfreiheit. Wir müssen bereit sein, die Konsequenzen unseres Engage-ments für eine größere Gerechtigkeit auf uns zu nehmen. Jede Umwandlung erfordert Opfer. Wenn man in der Gegengewalt versucht, die Folgen des Kampfes auf den anderen abzuwälzen, so sind es in der Gewaltfreiheit wir selbst, die freiwillig diese Konsequenzen annehmen müssen: uns die Frage zu stellen, schlecht angesehen zu werden, die Karriere zu verlieren, ins Gefängnis zu gehen. ... In manchen Kämpfen geht das bis zur Hingabe des eigenen Lebens, die im Hinblick auf eine Unrechtssituation eine Frucht bringende Tat sein kann, wie wir das bei Ninoy Aquino auf den Philippinen gesehen haben.

Gewaltfreie Mittel anwenden: Wenn wir die Überzeugung haben, dass der Mensch der größte Wert ist, dann müssen wir auch die Mittel wählen, die bereits in sich diese absolute Achtung vor der menschlichen Person haben, und das sind eben gewaltfreie Mittel. Wir müssen diese kennen und sie anwenden, wir müssen Strategien entwickeln und den alternativen Kampf fördern, der das Übel an der Wurzel besiegt, der heilt und der die Versöhnung möglich macht.

Literaturtipp

Goss-Mayr, Hildegard/Goss, Jean: Evangelium und Ringen um den Frieden, Internationaler Versöhnungsbund, Uetersen, 1997, S.47 ff.