Sehen, was schon da ist

Seite 1: Kulturelle Vorlieben, Familiennetzwerke, Migrationsbiografie

Wir möchten Ihnen nun einige Beispiele erfolgreicher Ressourcenarbeit mit Migrantenfamilien vorstellen. Sie zeugen einerseits von hohem kreativem Potenzial, andererseits zeichnen sie sich oft dadurch aus, dass es gelingt, kultur- und migrationsspezifische Eigenarten als Ressource zu nutzen. Dabei handelt es sich gerade um solche Eigenarten, die im öffentlichen Diskurs häufig als unpassend, fremdartig und hinderlich dargestellt werden. Hierzu zählen etwa ein starker familiärer Zusammenhalt (oftmals eindimensional interpretiert als »elterlicher Druck und Kontrolle«), intensive eigenethnische Netzwerkbeziehungen (sie gelten schnell als »Parallelgesellschaft«) oder die väterliche Sorge um die Söhne (in der Regel betrachtet als »Machismo«).

Kulturelle Vorlieben als Ressource

Eines der von uns untersuchten Projekte baut ganz gezielt auf die kulturspezifische Alltagsgestaltung vieler junger Mütter mit Migrationshintergrund, ihre Freizeitkontakte vorwiegend in einem häuslichen Bereich zu realisieren, d.h. bei sich zu Hause Besuch empfangen oder selbst andere Frauen zu Hause besuchen. Diese Freizeitgestaltung wird in einem Projekt genutzt, indem die Beraterinnen sich von Müttern nach Hause einladen lassen und ihre Beratungstätigkeit dort durchführen.

Auch an die Vorliebe für geselliges Beisammensein lässt sich gut anknüpfen, indem man mit Tee, Gebäck und einer entsprechenden Raumgestaltung eine angenehm vertraute und einladende Atmosphäre schafft. Schließlich muss ein Beratungsraum oder Müttertreff nicht unbedingt (mitteleuropäisch?/ männlich?/ bürokratisch?) funktionell gestaltet sein, sondern kann genauso gut den Vorlieben der Zielgruppe folgen und eine für sie angenehme Atmosphäre ausstrahlen.

Um den Geschmack der Nutzer/innen zu treffen, kann es sinnvoll sein, sie direkt in die Gestaltung von Räumlichkeiten und Orten der Begegnung einzubeziehen. Dieses Prinzip der beteiligenden Raumaneignung zum Aufbau von Zugängen und Identifikation ist ja auch aus anderen sozialarbeiterischen Handlungsfeldern als hilfreich bekannt.

Familiennetzwerke als Ressource

In mehreren Projekten wird erfolgreich damit gearbeitet, dass viele Mütter mit Migrationshintergrund über Verwandtschafts-, Freundschafts- und Nachbarschafts- beziehungen eng miteinander verbunden sind. Wenn solche intensiven und gut funktionierenden Netzwerke als Ressource gedeutet werden, lassen sie sich beispielsweise gut zur Bekanntmachung unterstützender Angebote einsetzen.

Hier können wir ganz im Sinn einer wertschätzenden Betrachtung festhalten, dass Migrantenfamilien, insbesondere Familien türkischer und arabischer Herkunft, oft viel Energie in die Gestaltung ihrer sozialen Netzwerke investieren, die sie für unterschiedliche Zwecke erfolgreich nutzen können. Migrantenfamilien verfügen daher häufig bereits über ein selbst gestaltetes reziprokes Unterstützungssystem, das in vielen anderen Fällen erst mit professioneller Unterstützung mühsam aufgebaut werden muss. Hier kann sich die Tatsache positiv auswirken, dass Zuwanderer nach ihrer Ankunft in einer fremden Umgebung zunächst stark auf die Unterstützung durch Landsleute angewiesen sind und daher hoch interessiert sind am Aufbau tragfähiger Netzwerke, die oft Jahrzehnte weiter bestehen und im Bedarfsfall zur Unterstützung aktiviert werden können.

Die Migrationsbiografie als Ressource

Das Projekt der Stadtteilmütter treibt das Prinzip der Ressourcenorientierung im positiven Sinne gleichsam auf die Spitze. Hier werden Mütter und deren Migrationshintergrund als wertvolle Zugangsressource aktiviert. Die Nutzung des Migrationshintergrundes als exklusive Ressource erfolgt durch einen Peer-Ansatz (Prinzip der Gleichwertigkeit). Dabei wird die biografische Situation der semiprofessionellen Mitarbeiterinnen, bei denen es sich meist um neu zugewanderte Heiratsmigrantinnen mit geringen Deutschkenntnissen handelt, nicht als Hindernis, sondern als besondere Ressource gesehen und für eine gelingende Zugangsgestaltung genutzt.

Wie funktioniert das Projekt? Zunächst wurden arbeitslose Mütter aus dem Kiez durch ein mehrmonatiges Qualifizierungsprogramm zu semiprofessionellen Mitarbeiterinnen ausgebildet, um anschließend als sogenannte Stadtteilmütter andere Mütter zu Hause aufzusuchen und mit ihnen bei insgesamt zehn Besuchen familienrelevante Themen zu besprechen. Sie arbeiten auf Augenhöhe. Sie sprechen die gleiche Sprache, muttersprachlich und milieuspezifisch. Sie haben ähnliche biografische Verläufe und Erfahrungshintergründe (Auflösung einer konstruierten professionellen Distanz). Zudem leben sie im gleichen Kiez und sind faktisch Nachbarinnen. Folglich arbeiten die Stadtteilmütter mehrdimensional im Bezugsrahmen der Adressatenfamilien.

In diesem Projekt ist es gelungen, durch die Ansprache und Qualifizierung arbeitsloser Mütter mit Migrationshintergrund, die im Allgemeinen ausschließlich als Adressatinnen betrachtet werden, Lebensweltexpertinnen mit einer hohen Akzeptanz zu gewinnen. Ein unseres Erachtens einfach grandioser Ansatz der Umdeutung!

Seite 2: Ausnahmen, Interesse, väterliche Sorge

Gelingende Ausnahmen als Ressource

Ein weiterer Ansatzpunkt für eine gelingende Ressourcenarbeit ist das hohe elterliche Interesse am Wohlergehen des Kindes. Die zentrale professionelle Grundhaltung für die Gestaltung eines familienunterstützenden Angebotes basiert auf der positiven Arbeitshypothese: Du hast ein Interesse, dass es dir, deinem Kind und deiner Familie gut geht.

Aus dieser Haltung heraus werden zunächst die Eltern direkt gefragt, was sie selbst in der Erziehung der Kinder erreichen wollen, was sie schon alles ausprobiert haben, was davon gut klappt und welche weiteren Ideen sie noch haben.

Dieses Vorgehen spiegelt zwei sehr hilfreiche Prinzipien aus der lösungsorientierten Arbeit:

  • Stärken, was schon da ist und gut funktioniert: Das erfordert ein detailliertes Herausarbeiten von dem, was schon klappt.
  • Entdecken von »gelingenden Ausnahmen« im Alltag, d.h. von Momenten, in denen ein Problem (etwas) kleiner als sonst ist, um dann herauszufinden, was genau in diesen Momenten anders ist. Denn diese Ausnahmen sind ein Beleg, dass die Familie es aus eigenem Potenzial heraus bereits hin und wieder schafft, selbst eine Lösung zu finden. Das verdeutlicht, dass sie im Grunde bereits weiß, was besser funktioniert und dass sie dies im Prinzip auch umsetzen kann.

Dabei kann es hilfreich sein, wenn Praktiker/innen den Müttern und Vätern kontinuierlich widerspiegeln, was sie an positiven Veränderungen oder »gelingenden Ausnahmen« feststellen. Dies könnte beispielsweise auch bewusst im Alltag von Kindertagesstätten und Schulen verankert werden, wo tagtäglich die Möglichkeit besteht, den Eltern, die ihre Kinder bringen oder abholen, positive Beobachtungen über ihre Kinder mit auf den Weg zu geben.

Aus Sicht einer Mutter, die wir interviewt haben, sollte sowohl in den Kindergärten als auch in den Grundschulen der Elternarbeit mehr Bedeutung zugemessen werden. »Die Eltern geben ihre Kinder morgens ab und holen sie abends wieder. Das kann doch nicht alles sein.« Sie beklagt, dass die Kommunikation zwischen Eltern, Erzieherinnen und Lehrerinnen oft sehr gering oder gar nicht vorhanden ist. Fragen nach der aktuellen Entwicklung des Kindes, nach Bedürfnissen oder auch Unterstützungsmöglichkeiten würden überhaupt nicht thematisiert – außer ein Kind fällt bereits negativ auf, d.h. »nachdem die Sache meist schon eingefahren ist.« Ihrer Ansicht nach könnte der Kontakt zu den Eltern über eine stärkeres individuelles Interesse und über damit verbundene Ansprache deutlich verbessert werden, insbesondere dann, wenn den Eltern die gelingenden Entwicklungsschritte ihres Kindes rückgemeldet werden: »und die gibt es bei jedem Kind!«

Eine andere Mutter, die Ressourcenorientierung in einem Weiterqualifizierungsprojekt erlebt hat: »Was mich hingezogen hat, war die intensive soziale Beziehung der Mitarbeiter zu uns und das Gefühl, dass ich für sie wichtig war. Außerdem bekam ich für meinen Erfolg alle Möglichkeiten geboten. Gleichzeitig haben sie mir bei Schwierigkeiten mit meiner Familie oder Kindern immer geholfen, und wenn mal nicht persönlich, dann habe ich Adressen bekommen, an die ich mich wenden konnte.«

Interesse als Ressource

In einem Frauentreff entstand nach dem Abschluss eines Nähkurses eine Selbsthilfegruppe. Als der ursprüngliche Kurs beendet war, kam von den Teilnehmerinnen der Vorschlag, sich selbst weiterhin zu treffen. Mittlerweile sind zwei dieser Frauen hauptverantwortlich für die Gruppe und besitzen einen Schlüssel für den Kursraum. Die Gruppenmitglieder entscheiden selbst, was sie machen wollen: nähen, sich unterhalten, Rezepte austauschen oder über Erziehungsfragen diskutieren. In der angrenzenden Küche können sie Tee kochen oder auch mal gemeinsam Rezepte ausprobieren.

Die Sozialarbeiterinnen des Frauentreffs kommen regelmäßig vorbei und bieten bei Bedarf Unterstützung und Begleitung oder geben Anregungen. Bisweilen bleibt es beim einfachen Vorbeischauen, um zu sehen, wie es den Frauen geht, und um ein bisschen zu plaudern. »Doch meist können wir uns gar nicht vor den vielen Fragen retten und sagen den Frauen, dass sie rüberkommen sollen in den Beratungsraum.« Hier zeigt sich deutlich, dass das Anknüpfen am eigenen Interesse nicht nur viele Potenziale sichtbar macht, sondern auch Zugangsmöglichkeiten für andere Prozesse eröffnet wie z.B. für intensivere Beratungsangebote.

Väterliche Sorge als Ressource

Eine Schulleiterin hat sehr gute Erfahrungen damit gemacht, die Sorgen ernst zu nehmen, die sich viele Väter um die Zukunft ihrer Söhne machen. Sie greift diese Sorge auf und macht dem Vater gleichzeitig klar, dass es vor allem wichtig ist, die Mutter in der Familie zu stärken, um das Ziel des Vater zu erreichen: »Wenn Sie wollen, dass Ihr Sohn erfolgreich wird, müssen Sie Ihre Frau unterstützen.« Die Schulleiterin wirft dem Vater also nicht etwa vor, dass er nur seinen Sohn im Blick hat und seine Frau nicht entsprechend den hiesigen Verhältnissen in ihrer Entfaltung unterstützt. Vielmehr nimmt sie die Sorgen des Vaters ernst und verdeutlicht ihm zugleich, dass nur eine Mutter, die sich in ihrer Umgebung und mit dem Schulsystem gut auskennt und die sich auf Deutsch verständigen kann, ihre Kinder angemessen bei den Hausaufgaben unterstützen kann. Damit kann sie dem Vater sowohl die in ihrer Schule angebotenen Sprachkurse für Mütter zugänglich machen als auch seine Zustimmung für die weitere Unterstützung der Mutter erhalten.

Nicht durch Druck und Konfrontation, sondern durch Wertschätzung und Ansetzen an den vorhandenen Interessen und Sorgen sowie durch das Nachvollziehbarmachen der Sinnhaftigkeit einer Veränderung wird aus der Motivation eines Vaters eine Bewegung in die gewünschte Richtung. Ausgehend von der väterlichen Sorge kann die Schulleiterin ihr Ziel, die Bildung der Kinder und ihrer Mütter zu verbessern, erreichen. Denn auf diese Weise agiert sie mit der familiären Kultur und mit den Vätern.

Seite 3: Wertigkeit

Wertigkeiten als Ressource

Juristischer Rat scheint für viele Migrantenfamilien äußerst wichtig zu sein. Dies rührt vermutlich unter anderem daher, dass ihr Leben in Deutschland aufgrund des Ausländerstatus relativ stark durch juristische Vorgaben und Beschränkungen beeinflusst ist. Ein Nachbarschaftstreff nutzt das hohe Interesse an juristischer Unterstützung und das große Ansehen von Anwält(inn)en bewusst, um auf diese Weise den ersten Zugang zu Migrantenfamilien zu erhalten: »Eigentlich ist unser ganzheitlicher Ansatz ausschlaggebend. In einem Projekt haben wir beispielsweise ein Kiezcafé. Dort gibt es auch eine Rechtsberatung, und da kommen ganz viele Eltern hin, weil sie da mit einer Rechtsanwältin sprechen können, ob über familienrechtliche Fragen oder über Mietprobleme, das ist ganz egal. Die Rechtsberatung ist oft der erste Zugang, bei dem dann meist deutlich wird, dass die Familien außerdem noch ganz andere Probleme haben. Wenn das der Fall ist, kann man sagen: ‹Mensch, sprich doch auch mal mit der Kollegin, die kann dir da vielleicht weiterhelfen!› Unser Angebot ist bewusst ziemlich breit gefächert, damit Eltern verschiedene Zugänge haben und nicht zu jedem Thema zu einer speziellen Beratung rennen müssen.«

Auch hier wird ganz bewusst das Vorhandene genutzt: die hohe Akzeptanz der Rechtsberatung als möglicher Zugang zu weiteren familienunterstützenden Beratungen.

Eine Mitarbeiterin: »Manchen fällt es eben leichter, erst einmal zur Mieterberatung zu gehen. Das ist nicht so peinlich, als wenn ich direkt zu einer Erziehungsberatung gehe, wo draußen schon Erziehungsberatung dran steht.