Lebensweltexpertise

Eine wichtige Leitmaxime aus dem Konzept der Lebensweltorientierung scheint in den Projekten, in denen die Arbeit mit Migrantenfamilien gelingt, durchgängiger Standard zu sein: Die Menschen sind die Expert(inn)en ihrer jeweiligen Lebenswelt.

Dieser Grundsatz rüttelt an einem möglicherweise festgefahrenen Koordinatensystem des Expertentums von Profis der Sozialen Arbeit. Dieses Prinzip hat aber insbesondere dann für die familienunterstützende Arbeit große Bedeutung, wenn die Familien einen anderen kulturellen Hintergrund oder ein niedrigeres Bildungsniveau haben als die Praktiker/innen. Denn in diesen Fällen ist die Gefahr besonders groß, dass Professionelle sich selbst als Lebensweltexpert(inn)en ansehen und meinen, aufgrund ihrer vermeintlich größeren Vertrautheit mit der Mehrheitskultur oder aufgrund ihrer höheren Bildung, besser zu wissen, was den Familien gut tut als die Familien selbst.

Dazu kommt, dass Nutzer/innen, insbesondere dann, wenn sie eine geringe Bildung haben, möglicherweise ähnliche Erwartungen hegen und denken, die Professionellen wüssten über alles besser Bescheid als sie. Hier mag die Versuchung aufkommen, das eigene Verständnis von »gut und richtig« zum Ausgangspunkt des Handelns zu machen.

In den untersuchten Projekten ist dagegen durchgängig zu spüren, dass die subjektive Perspektive der Mütter und Väter geachtet und respektiert wird, selbst dann, wenn sie der Perspektive der Praktiker/innen widerspricht. Ihre interkulturelle Handlungskompetenz zeigt sich in ihrer Neugier und Offenheit gegenüber dem Unbekannten und in ihrer Fähigkeit, Fremdheit auszuhalten und anderskulturelle Wahrnehmungs-, Deutungs- und Verhaltensmuster zu akzeptieren.

Ihre Expertise gründet sich nicht auf vermeintlichem Wissen, sondern auf ihrer Fertigkeit des Nicht-Wissens. Das Konzept des Nicht-Wissens stammt aus der lösungsfokussierten Beratung und wird dort folgendermaßen beschrieben: »Die Position des Nicht-Wissens zieht eine allgemeine Haltung oder einen Standpunkt nach sich, in welchem die Handlungen des Therapeuten eine reichhaltige, aufrichtige Neugier vermitteln. Das heißt, die Handlungen und Haltungen des Therapeuten drücken eher das Bedürfnis aus, mehr über das zu erfahren, was gesagt wurde, als vorgefasste Meinungen und Erwartungen über den Klienten, das Problem oder das, was geändert werden sollte, zu vermitteln. Der Therapeut oder die Therapeutin positioniert sich selbst also in einer Weise, die es ihm oder ihr erlaubt, durch die Klienten ‹informiert› zu werden.« (JONG u.a. 2003:46)

Durch eine entsprechende Haltung der Wertschätzung, der offenen Neugier und der empathischen Akzeptanz können gerade Praktiker/innen deutscher Herkunft ihren (vermeintlichen) Nachteil in der fremdsprachlichen und interkulturellen Kommunikation positiv wenden. Gerade die Tatsache, dass man nichts oder nur wenig versteht, wenn türkisch, arabisch oder russisch gesprochen wird, oder dass man einfach nicht nachvollziehen kann, warum Eltern in bestimmten Situationen so und so handeln, bietet die Chance, nachzufragen und es sich genau erklären zu lassen.

Natürlich kann es darüber hinaus hilfreich sein, einiges über kulturelle Hintergründe zu wissen, genauso wie man erwarten kann, dass sich Professionelle, die in einem multikulturellen Stadtteil tätig sind, sich mit den besonderen Charakteristika der Lebenslagen von Migrant(inn)en befassen. Dieses Wissen um kulturelle Bezüge und Spezifika der Einwanderungssituation darf jedoch nicht dazu verführen, einzelne Menschen zu kategorisieren und ihnen nicht offen, sondern mit vorgefertigten Schablonen zu begegnen.

An dieser Stelle möchten wir eine kleine Checkliste zur lösungsorientierten Haltung von Insoo Kim Berg und Susan Kelly einfügen, die vieles dessen enthält, was wir bei den Praktiker/innen in Neukölln gefunden haben. Sie dient gleichzeitig als Übergang vom professionellen Selbstverständnis zu einem weiteren Aspekt, der die inneren Voraussetzungen für das Gelingen der unterstützenden Arbeit mit Migrantenfamilien charakterisiert: das Arbeitsprinzip der Ressourcenorientierung.

Eine kleine Checkliste der lösungsorientierten Haltung:

  1. Der Klient steht im Mittelpunkt.
  2. Erfassen Sie Lösungen, nicht Defizite.
  3. Nutzen und vergrößern Sie das, was bisher funktioniert hat.
  4. Hören Sie sich an, welche Ergebnisse der Klient sich wünscht.
  5. Verbünden Sie sich mit dem Klienten, um die Wünsche in die Tat umzusetzen.
  6. Welches sind die bestehenden Stärken und Ressourcen des Klienten? Nutzen Sie sie, um Lösungen zu entwickeln.
  7. Verwenden der Wörter und Bilder des Klienten wird dem Sozialarbeiter helfen, auf vergangenen Erfolgen aufzubauen (und seien sie auch noch so klein) und sich Lösungen zu nähern, die von Dauer sind.
  8. Zusammenarbeit ist der Schlüssel.
  9. Lösungen werden vom Klienten zusammen mit dem Sozialarbeiter geschaffen.
  10. Unterstützen Sie die Ziele des Klienten.
  11. Respektieren und verwenden Sie die einzigartigen individuellen, kulturellen und ethnischen Realitäten, die jeder Klient in die Situation mit einbringt.
Autor

Aus: Kinderschutz und Lösungsorientierung © 2001 lnsoo Kim Berg und Susan Kelly (Dortmund; Verlag modernes lernen)