Wir handeln in einer wirklichen Welt. Wenn wir die Wirklichkeit nicht erfassen, wie sie ist, und wesentliche Elemente und Bestimmungsfaktoren übersehen, vergessen oder verharmlosen, dann bekommen wir die »Quittung« dafür, d.h. neue Probleme über unerwartete Folge- und Nebenwirkungen. Es ist also von großer Bedeutung, die Wirklichkeit so ganzheitlich und ungeteilt wie möglich wahrzunehmen.
Vorrangig nehmen wir die Welt über unsere Sinnesorgane wahr (Hören, Sehen, Riechen, Schmecken, Tasten). Doch wie verlässlich sind unsere Sinne? Ist alles wirklich und wahr, was wir z.B. sehen? (Falls ja, dann gehen Sie doch mal raus und schauen nach, ob sich die Erde wirklich um die Sonne dreht, wie die Wissenschaftler behaupten). Wir sehen in der Nacht noch lange nicht das, was eine Katze sieht, und riechen nicht das, was ein Hund riecht. Wer ist näher an der Wirklichkeit/Wahrheit?
Geld ist nicht nur ein »Zahlungsmittel«. Zur Gesamt-Wirklichkeit des Geldes gehört auch, dass es eine Art »Stimmzettel« ist, mit dem wir beim Kauf der Ware unsere Zustimmung für die ihr zu Grunde liegende Ethik, das Qualitätsniveau und die Produktionsweise geben. Was nachgefragt wird, wird damit anerkannt und folglich auch wieder nachgeliefert. Suchen Sie einmal nur nach den Wirklichkeitsaspekten »Ethik", »Qualität" und »Produktionsweise« beim angenommenen Kauf von billigem Kaffee aus Brasilien, dem Schnäppchen von handgewebten Teppichen aus Nepal, dem Sondertarif beim Flug von Nürnberg nach Frankfurt, dem günstigen Pauschalangebot für den Skiurlaub in den Alpen usw.
Unsere Sinnesorgane sind z.T. degeneriert und vernachlässigt. Wir können sie etwas entwickeln, müssen aber die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit zum Erfassen von Wirklichkeit ebenso akzeptieren wie die Tatsache, dass sich viele bedeutsame Wirklichkeiten der sinnlichen Wahrnehmung entziehen. Zwei Eier mögen gleich aussehen, dennoch ist die »unsichtbare« Frage ihrer Herstellung - ob Legehennenbatterie oder frei laufend - auch ein Teil ihrer zu berücksichtigenden Wirklichkeit, mit Folgen für die Natur, die Tiere, die Wirtschaftsweise usw. Die Müllabfuhr müsste schon mal vier Wochen streiken, bis wir das Ausmaß unserer persönlichen Müllproduktion sinnlich wahrnehmen könnten, Zeitungsmeldungen über volle Deponien erscheinen dagegen eher »unwirklich«.
Die Menge von Flugzeugbenzin, die zur Wirklichkeit jeder aus Neuseeland importierten Kiwi gehört, verbirgt sich unserer Wahrnehmung. Es ist eine ständige Frage und Herausforderung, wie viel wir von der Gesamtheit der Wirklichkeit erfasst haben. Die Lebenserfahrung zeigt, dass wir die Tendenz haben, nur Ausschnitte wahrzunehmen und diese dann für die ganze Wirklichkeit zu halten.
Die zweite Schlussfolgerung kann also nur heißen, vorsichtiger und zurückhaltender zu sein im Vertrauen auf das, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen (oder nicht wahrnehmen) und was wir für Schlussfolgerungen daraus ziehen. Die Grenzen der sinnlichen Wahrnehmung von Wirklichkeit müssen erkannt werden, sonst kommt es zu fatalen Fehleinschätzungen.
Beschränken wir die Anerkennung von Wirklichkeit nur auf die beweisbaren, exakten Naturwissenschaften (Zählen, Messen, Wiegen) oder hat z.B. auch die »unwissenschaftliche«aber »wirksame« Heilmethode der Homöopathie darin Platz? Was wissen wir von den unterschiedlichen Wirklichkeitsebenen ein und derselben Sache, Person oder Situation?
Sind Gefühle, Ahnung und Intuition in unserem Bild von Wirklichkeit enthalten, wie sieht es mit der Ebene der Seele und des Geistes, ja der Religion aus? Das sind Fragen, die hier nur angetippt werden können, die nachdenklich machen sollen und die der individuellen Klärung bedürfen.
Seite 2: Bilderrätsel
Um Sie ein wenig nachdenklich zu machen bezüglich Ihres Vertrauens in Ihre Sinneswahrnehmungen, mit denen Sie »Wirklichkeit« erfassen, hier ein paar Beispiele, bei denen Sie vermutlich manchmal etwas sehen, was nicht ist oder etwas nicht sehen, was tatsächlich ist.
Hier finden Sie weiterführende Literaturhinweise zu kreativen Problemlösungen.
Weiteres Material, auch mit Farbtäuschungen, findet sich auf der Internetseite www.leinroden.de
Seite 3: Lösungen
Bild 1: Sehen, was gar nicht da ist.
Kleine graue Punkte erscheinen an den Schnittstellen der weißen Linien zwischen den Quadraten. Versuchen Sie nun aber, einen dieser Punkte zu fixieren, so verschwindet dieser.
Bild 2: Mehrdeutige Darstellung.
Die dunkle Fläche stellt sowohl einen Eskimo und die Öffnung zu seinem Iglu dar als auch einen Indianer mit Kopfschmuck. Das Ohr des Indianers ist gleichzeitig der Arm des Eskimos, und die Beine des Eskimos stellen den Hals des Indianers dar. Haben Sie beide Figuren einmal wahrgenommen, können Sie die eine nicht mehr fixieren, ohne dass die andere von Zeit zu Zeit ins Blickfeld rückt.
Bild 3: Hintergrundtäuschungen und wechselhafte Abbildungen.
Wenn wir Dinge betrachten, neigen wir dazu, unsere visuellen Eindrücke in Objekt und Hintergrund aufzuteilen. Auf Abbildungen ist das Objekt in der Regel dunkler als sein Hintergrund. Im Allgemeinen ist das Objekt auch kleiner und in seiner Textur regelmäßiger als der Hintergrund. Manchmal trifft dies aber nicht zu, und es ergeben sich Schwierigkeiten, zu entscheiden, was nun Objekt und was Hintergrund ist. Im Bild 3 sind in Wirklichkeit überhaupt keine vollständigen Dreiecke vorhanden, unser Auge neigt dazu, bestehende Lücken zu füllen, und so können wir zwei, sechs, acht oder auch gar kein Dreieck sehen.
Bild 4: Größen- und Bildverzerrungen.
Unsere Fähigkeit, Größen und Formen richtig einzuschätzen, wird oft durch den Kontext, in welchem die betrachteten Objekte stehen, beeinträchtigt. Selbst wenn wir uns der Beeinträchtigung bewusst sind, ist es oft nicht möglich, die Wahrnehmung den Umständen anzupassen. In diesem Bild sind beide Mittelteile gleich gross. Die verschiedenen Größen der sie umgebenden Kreise beeinflussen Ihre Einschätzung.
Bild 5: Tiefenwahrnehmung.
Die Wahrnehmung dreidimensionaler Objekte orientiert sich an vielen Anhaltspunkten, die auch auf einer zweidimensionalen Oberfläche dargestellt werden können. Fällt nun von einer Reihe solcher Anhaltspunkte (z.B. für Tiefe), die miteinander übereinstimmen, einer aus dem Rahmen, so wird dieser vom Hirn – ungeachtet der Realität – in Übereinstimmung gebracht. In Bild 5 haben Sie gar keine Spirale, sondern nur Kreise vor sich. Fahren Sie mit dem Mauszeiger auf der »Spirale« entlang, und Sie werden jeweils zum Ausgangspunkt zurückkommen.
Bild 6: Sinnsuche.
Es scheint so, als wenn wir Chaos nicht aushalten können und erst wieder zufrieden sind, wenn wir in einer Sache Sinn (Bedeutung, Erklärung) erkennen. Ich habe im Urlaub einmal diese Plastik am Strand gefunden. Da sie keinerlei Titel trug, ging ich langsam um sie herum, um herauszufinden, was sie darstellt. Dies war vergeblich. Aber an einem bestimmten Punkt – und nur da – sah ich plötzlich das nebenstehende Bild vor mir. In dem Moment durchzuckte mich, dass es wohl ein Würfel (oder ein Kubus) sein sollte, und dann musste ich laut lachen, weil ich erkannte, dass diese Erklärung nur in meinem Kopf durch optische Täuschung entstanden war und nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatte.
Quelle der Bilder und Texte 1-5: Kartenspiel »Sehen, was nicht ist, und nicht sehen, was ist«, Prof. J. R. Block und Prof. H. E. Yuker, Hofstra-Universität, Hempstead, NY, USA, Hrsg. Time-Life-Bücher.