Konkrete Herausforderungen für die Gemeinwesenarbeit

Konkrete Herausforderungen für die Gemeinwesenarbeit

Wie sehen nun die konkreten Herausforderungen für die Gemeinwesenarbeit vor Ort aus? Basierend auf Erfahrung in der praktischen Gemeinwesenarbeit in Kreuzberg bewegen sich diese auf zwei Ebenen: Sie verändern unsere Rahmenbedingungen und die Arbeitsweise der GWA und sie betreffen insbesondere die Themen Partizipation und Empowerment.

Rahmenbedingungen und veränderte Arbeitsweise der GWA

Digitalisierung der Kommunikationsstrukturen

Eine bisher nicht gekannte Vernetzung, Mobilisierung und Organisierung über Soziale Medien wie Facebook, Whatsapp, Telegramm im virtuellen Raum. Der Umgang damit ist für die GWA in der Arbeit mit Menschen mit Fluchterfahrung von besonderer Bedeutung.

Tipp

Viele Informationen sowie die Verständigung über aktuelle Entwicklungen und das nächste Vorgehen werden rasend schnell genau hier und nur hier kommuniziert. Die persönliche Abgrenzung von dieser zeitnahen Kommunikation ist zugleich aber auch eine Herausforderung.

Hier wird 24 Stunden, sieben Tage die Woche kommuniziert, es gibt kein Wochenende und keinen Feierabend. Klinkst du dich als Gemeinwesenarbeiter/in aus, bist du abgeschnitten von einer zentralen Informationsquelle.

Tipp

Auf der anderen Seite schafft dieser virtuelle Raum, der keine geografischen Grenzen setzt, ein Gemeinschaftsgefühl und fördert Solidarisierungsprozesse. Diese Kommunikationskanäle sind selbstbestimmt, selbstgewählt und schaffen Handlungsmacht.

Die Dokumentation von Missständen in einer Unterkunft bspw. konnte ohne Wissen der Heimleitung stattfinden und nach außen weitergetragen werden. Die Ehrenamtlichen aus der Nachbarschaft sammelten diese, um sie im Auftrag der Bewohner/innen den Betreiber/innen dieser Notunterkunft bei einem Runden Tisch als Beweise vorzulegen. Fotos und anonymisierte Aussagen haben einen Prozess in Gang gesetzt, an dessen Ende Verbesserungen erzielt wurden und der Betreiber für weitere Unterkünfte nicht mehr zugelassen wurde. Diese Erfahrungen der Selbstwirksamkeit und der Solidarisierung gegen Unrecht konnten erst aus diesem virtuellen Raum heraus ermöglicht werden.

Tipp

Des Weiteren bieten diese Kommunikationsstrukturen für Gemeinwesenarbeiter/innen eine Möglichkeit zur Aufrechterhaltung der Kontakte und Beziehungen, wenn die Bewohner/innen aus den Notunterkünften nicht in Wohnungen in der Nachbarschaft untergebracht werden können.

»Staying in contact« – eine Nachbarschaft, die sich virtuell organisiert und real trifft – unabhängig davon, wo die einzelnen Personen leben. Über diese Gruppe können Kontakte in anderen Stadtteilen sowie Hilfe bei Umzügen vermittelt werden. Hierbei werden bereits bestehende Organisierungsstrukturen von Geflüchteten aufgegriffen. Eine Herausforderung besteht darin, im virtuellen Raum die sprachlichen Barrieren zu überwinden.

Bündelung von Wissen

Im Stadtteil existieren viele Projekte und Angebote, von denen die Mitwirkenden und die Zielgruppen oft zu spät erfahren. Das Wissen ist verstreut, teilweise existieren Parallelstrukturen, manchmal gibt es eine Unterversorgung und woanders ein Überangebot.

Tipp

Dieses Wissen zu sammeln, zu vernetzen und auf einer Plattform bereitzustellen, ist eine große Herausforderung, die allerdings für alle Beteiligten notwendig ist. Hierfür braucht es Zeit und Ressourcen.

Kooperation mit höchst professionellen Freiwilligen(-initiativen)

Wir erleben Unterstützer/innen(-initiativen), die in ihrem Handeln und Wirken, in ihrer Logistik und in ihren basisdemokratischen Strukturen höchst professionell organisiert sind. Es handelt sich um Freiwillige, die selbstständig und unabhängig wirken. Wir erleben Unterstützer/innen aus der Nachbarschaft oder die Initiative »Kreuzberg hilft« als unabhängig, politisch und mit Vereinen, Institutionen und den Medien sehr gut vernetzt. Sie besitzen Handlungsmacht und stellen Forderungen, z. B. nach menschenwürdigen Wohnbedingungen oder nach echter Partizipation von Unterstützer/inneninitiativen und Migrant/innen- sowie Flüchtlingsselbstorganisationen bei Strategie- und Konzeptentwicklungen zur sogenannten Integration von Geflüchteten.

Im Nachbarschaftshaus Urbanstraße arbeiten wir mit ihnen auf Augenhöhe und partnerschaftlich eng zusammen. Wir vermitteln und moderieren in Konflikten, z. B. zwischen Betreiber/innen von Unterkünften und Unterstützer/innen von Menschen mit Fluchterfahrung. Es gibt private Betreiber/innen, ähnlich wie im Bereich der Obdachlosenunterkünfte, die mit dem Elend und der Not der Menschen Profite machen. Unterstützer/ innen, die diese Mängel aufdecken und im Auftrag von Bewohner/innen dieser Unterkünfte zur Sprache bringen, erhalten z. B. Hausverbot. Wenn die Vermittlungsversuche scheitern, bedarf es einer politischen Arbeit, die z. B. Raum für zivilgesellschaftlichen Protest schafft.

Tipp

Bei dieser sehr guten Zusammenarbeit müssen wir uns auch mit den »Kontroversen ums Ehrenamt in Zeiten des flüchtlingspolitischen Versagens« auseinandersetzen. Eine weitere Herausforderung ist dabei, dass wir aufgrund der politischen und finanziellen Rahmenbedingungen der Gemeinwesenarbeit den Weg, den Initiativen beschreiten, nicht ohne Abwägungen mitgehen können. Dieses Dilemma kennen wir bereits aus der Zusammenarbeit mit stadtteilpolitischen Initiativen zum Thema Mieten.

Asymetrische Machtverhältnisse

Wir bewegen uns mit Blick auf die Arbeit mit Geflüchteten in einem Rahmen, in dem asymmetrische Machtverhältnisse reproduziert und verfestigt werden können. Diese aufzudecken, zu skandalisieren, für diese zu sensibilisieren und ihnen einen diskursiven Raum zu geben, ist eine große Herausforderung.

Tipp

Wir müssen uns mit der Gender-, Race- und Klassenfrage auseinandersetzen.

Ehrenamtliche sind mehrheitlich weiße, deutsche Frauen; Geflüchtete wiederum mehrheitlich alleinstehende junge Männer (vgl. EFA-Studie 2016, S. 15f.; BAMF Aktuelle Zahlen zu Asyl 5/2016, S. 7). Zwischen diesen Gruppen können sich verschiedene Konstellationen asymmetrischer Machtverhältnisse im Hinblick auf Gender, Race und/oder Klasse ergeben, die es zu dekonstruieren gilt.

In der Kategorie »Gender« können diese asymmetrischen Machtverhältnisse zwischen deutschen und geflüchteten Frauen ebenfalls auftreten, wenn z. B. eine weiße, deutsche Unterstützerin ihre Einzelerfahrungen als ehemalige Lehrerin mit Töchtern aus sogenannten Gastarbeiterfamilien auf junge Frauen aus farsisprachigem Raum projiziert und bei ihrer Unterstützung die Bedürfnisse dieser jungen Frauen nicht berücksichtigt. Folglich braucht es einen alltagsorientierten Diskurs über die Arbeit mit Geflüchteten im Stadtteil aus der Genderperspektive.

Konkurrenzen und Konflikte unter benachteiligten und marginalisierten Gruppen

Wir bewegen uns in unserer Arbeit in Konflikten und Konkurrenzen unter den benachteiligten, marginalisierten Gruppen. Einwohner/innen mit Flucht- und Migrationsbiografie, die seit Jahren und Generationen einen Teil dieser Gesellschaft bilden, haben Ängste und Sorgen, dass sich ihre Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen verstärken. Und diese Ängste und Sorgen sind berechtigt. »Der Rassismus im Alltag nimmt zu«, titelte die Zeit am 13.05.2016 und berichtete, dass »die Polizei in Hamburg im 1. Quartal eine rassistische Beleidigung am Tag registrierte. Frauen mit Kopftuch seien am häufigsten betroffen.« In verschiedenen Kontexten taucht immer wieder die Bemerkung auf, dass selbst unter den Bewohner/innen mit Migrations- und Fluchterfahrung Vorbehalte gegenüber Geflüchteten existieren würden. Das mag sein, aber auch hier sollten wir die Ursachen und Gründe thematisieren und die Sorgen ernst nehmen.

»Als wir damals hergekommen sind, gab es kein ›Willkommen‹, gab es diese Hilfe nicht. Wir mussten uns alleine durchkämpfen.« In dieser Aussage einer Frau, die in den 1980er Jahren aus dem Libanon geflohen ist, drückt sich kein Neid, sondern Schmerz und Verbitterung aus. Wie gehen wir damit um? Wie können wir Schmerz und Hoffnung zugleich Raum geben? Wie argumentieren wir? Was gab es damals noch nicht, was es heute gibt, was wir für Erklärungen heranziehen können? Diese Fragen gelten auch für andere Gruppen.

Wir sehen Verteilungskämpfe und Konkurrenzen zwischen Wohnungslosen und Geflüchteten, zwischen Erwerbslosen und Geflüchteten, zwischen ALG-II-Beziehenden und Geflüchteten, zwischen prekär Beschäftigten und Geflüchteten usw. Nur wann zählen Geflüchtete zu Einwander/innen, zu Erwerblosen, ALG-II-Beziehenden, prekär Beschäftigten oder Wohnungslosen?

Tipp

Diese Gruppenstigmatisierungen und Etikettierungen aufzubrechen, Solidarisierungsprozesse zu begleiten und den Blick auf die strukturellen und politischen Ursachen auch der Verteilungskämpfe zu wenden, zählen mitunter zu den größten Herausforderungen in unserer Arbeit.

Finanzierung

Wir haben gegenwärtig ungewohnte finanzielle Spielräume – angesichts zahlreicher Finanzierungen für die Arbeit mit Geflüchteten ist die Herausforderung, wie/ob sich darüber nicht auch GWA finanzieren lässt. Wir haben gerade zwei dreijährige Projektfinanzierungen eingeworben, über die sich unserer Ansicht nach durchaus auch Gemeinwesenarbeit realisieren lässt – eine Aktion Mensch- Förderung und eine Förderung über das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Oft sind es allerdings nur kürzere Förderzeiträume, die nicht mit dem Interesse, GWA zu realisieren, vereinbar sind.

Tipp

Vielmehr bräuchte es mehrjährige Regelfinanzierungen mit größeren Gestaltungsspielräumen, die der GWA Perspektive geben und z. B. auch zu zusätzlichen Personalressourcen wie Dolmetscher/innen verhelfen.

Partizipation & Empowerment von Geflüchteten

Politisches Subjekt statt Objekt der Fürsorge

Menschen mit Fluchterfahrungen sind nicht per se Hilfsbedürftige. Es gilt, sie nicht zu beschäftigen oder zu bespielen. Sie sind keine Objekte der Fürsorge, sondern, wie bereits zuvor ausgeführt, politische Subjekte. Es existieren zahlreiche Selbstorganisationen wie The Voice, Women in exile e.V. oder International women’s space, die bundesweit vernetzt sind und agieren. Der lange Marsch nach Berlin, Proteste in verschiedenen Großstädten sind Beispiele für die gegenwärtige Geschichte der Proteste von Geflüchteten und Ausdruck eines politischen Selbstverständnisses. Leider sind diese Initiativen und Organisationen noch zu wenig in Runden Tischen oder Arbeitsgruppen in der Nachbarschaft vertreten. In Stadtteilbündnissen mit Institutionen, Organisationen und Verbänden sind Flüchtlingsselbstorganisationen unserer Erfahrung nach kaum präsent.

Als Gemeinwesenarbeiter/innen müssen wir dieses Ungleichgewicht thematisieren und aufbrechen, indem wir gezielt an Selbstorganisationen herantreten und zur Partizipation am Aufbau von Stadtteilbündnissen, wie wir es gegenwärtig beim Aufbau eines Kreuzberger Bündnisses »Migration- Flucht-Inklusion« umsetzen wollen, einladen.

Auch hier stellt sich uns die Frage, was ist mit jenen Personen, die nicht organisiert sind, gerne etwas verändern würden, aber von Tag zu Tag leben, sich in einer Phase der Krisenbewältigung befinden? Eine Frage, die wir aus der Mobilisierungsarbeit von obdachlosen Bewohner/innen im Bündnis »Solidarische Stadt« kennen. Ein obdachloser Aktivist im Bündnis sagte bei einem Treffen: »Wenn du tagtäglich ums Überleben kämpfen musst, ist politische Arbeit Luxus!«

Empowerment durch Gemeinwesenarbeit

Überall da, wo Unterkünfte und Wohnungen für  Geflüchtete bereitgestellt werden, kann GWA in besonderem Maße gebraucht und eingesetzt werden – mit unterschiedlichen Facetten – um

  • echte Beteiligung zu ermöglichen,
  • solidarische Bündnisse aufzubauen,
  • Ängste und Widerstände zu bearbeiten und
  • um Begegnungsräume zu schaffen u.v.a.m.

Begleitet werden müssten diese Handlungsfelder von einem kritischen Diskurs für ein solidarisches, inklusives und gerechtes Gemeinwesen. Aktuell erhalten wir aus den selbstorganisierten Strukturen die Rückmeldung, dass diese die Arbeit nicht immer allein bewältigen und sich teilweise eine professionelle Begleitung in Form von GWA oder Organizing wünschen würden.

Der Ruf nach GWA darf angesichts einer im Moment (zumindest) abebbenden Zuwanderung nicht verhallen, sondern muss im Gegenteil nach Bewältigung dieser aktuellen Situation eher noch stärker werden. Doch wie werden wir neben dem großen Thema »Fluchtzuwanderung« auch noch anderen Themen in den Stadtteilen gerecht? Wie können wir Akteur/innen wie Verbände in die Bündnisarbeit an der Basis miteinbeziehen? So wie der Ruf nach GWA existiert, so existiert ebenso ein Ruf nach Verbänden, die auf die Straße gehen und sich mit der Basis zusammenschließen. »Positionspapiere, Stellungnahmen sind gut, aber zeigten wenig Wirkung. In den 90ern gingen Verbände noch auf die Straße«, heißt es immer wieder aus den Basisbewegungen – nicht nur das Thema »Fluchtzuwanderung« betreffend.

Wichtig

GWA hilft gegenwärtig, die aktuellen Herausforderungen der Zuwanderung zu bearbeiten. Wichtig wäre es aber seitens der GWA, bald die langfristigen Herausforderungen stärker in den Blick zu nehmen und Themen wie Arbeit, Wohnen, nachbarschaftliche Netzwerke etc. zu bearbeiten. Aus unserer Sicht braucht es daher GWA und entsprechende Finanzierungen dafür in wachsendem Maße.