Der von Saul David Alinsky Ende der 1930er und in den 1940er Jahren in den USA entwickelte radikal-demokratische Ansatz von Community Organizing (CO) blieb in Deutschland lange Zeit unbekannt. Erste Versuche »Amerikanische Methoden der Gemeinschaftshilfe« (1) nach Ende des Zweiten Weltkriegs in der Bundesrepublik Deutschland publik zu machen, fanden in der damaligen Fachdiskussion innerhalb der Sozialen Arbeit kaum Aufmerksamkeit. Es dominierte die Einzel(fall)hilfe, das Case Work, während sich Ansätze der sozialen Gruppenarbeit erst ganz allmählich etablierten. Der Jugendhof Vlotho sowie das Haus Schwalbach im Taunus nahmen hierbei eine herausgehobene Stellung ein.
Mit der Herausbildung der Gemeinwesenarbeit als »3. Methode« der Sozialen Arbeit ab etwa Mitte der 1960er Jahre avancierte der Kanadier Murray G. Ross zur nahezu alleinigen Leitfigur in der theoretischen Ausbildung von Sozialarbeiter/innen. Eine breite Palette von Projekten der Gemeinwesenarbeit etablierten sich in den klassischen Obdachlosenquartieren westdeutscher Städte und in den Wohnkomplexen des Sozialen Wohnungsbaus, die allerorts an den Stadträndern gebaut wurden, entstanden studentische Projekte. Das reformpädagogische Konzept von Ross stieß hier sehr schnell an seine Grenzen und der Ruf nach »aggressiven« oder »konfliktorientierten« Konzepten in der Gemeinwesenarbeit wurde laut. (2) Es war der Verdienst insbesondere des Burckhardthaus-Verlags (Gelnhausen/Berlin), der Alinskys Schriften in deutscher Übersetzung 1973 unter dem Titel »Leidenschaft für den Nächsten« (3) und 1974 unter dem Titel »Die Stunde der Radikalen« (4) herausbrachte und somit den Autor einem erweiterten Leserkreis näher brachte. Die Zusammenfassung zentraler Kapitel aus beiden Büchern (5) öffnete Alinsky einem Leserkreis, der über die Soziale Arbeit und das konfessionelle Engagement hinausging. Der Autor war seitdem in der Bundesrepublik Deutschland bekannt und auch einzelne Projekte in der Gemeinwesenarbeit reklamierten nun für sich nach dessen Konzept von CO zu arbeiten.
Konstituierung von Community Organizing in Deutschland
Die von vier Studierenden der katholischen Fachhochschule Freiburg gemeinsam verfasste Diplomarbeit (6) zum Vergleich der bundesdeutschen Gemeinwesenarbeit mit dem Community Organization in den USA löste Anfang der 1990er Jahre »die dritte Welle der CO-Rezeption« (7) in Deutschland aus. Es gab nun ernsthafte praktische Versuche, Alinskys Konzept des CO auf die spezifischen Bedingungen in der Bundesrepublik Deutschland und die hiesige Wohlfahrtsorganisation zu übertragen. Die Rezeption des radikal-demokratischen Ansatzes von Alinsky hatte sich hierzulande bislang nahezu ausschließlich in theoretischer Weise vollzogen oder war maximal in vereinzelten, punktuellen Aktionen auf jeweils lokaler Basis in Erscheinung getreten. Eine Einbettung in eine langfristige Strategie zum Aufbau eigenständiger, machtvoller Bürgerorganisationen nach amerikanischem Vorbild war bis zu diesem Zeitpunkt jedoch weitestgehend nicht erfolgt.
Ein erstes Training zu CO in Deutschland wurde 1993 im Burckhardthaus Gelnhausen durchgeführt von zwei der renommiertesten und erfahrensten amerikanischen Organizern, Don Elmer (Center for Community Change, San Francisco) und Ed Shurna (Interfaith Organizing Project und Gamaliel Foundation, Chicago). Beide wurden noch von Alinsky selbst für das Organizing gewonnen und arbeiteten seit den 1970er Jahren mit dessen Mitarbeiter/innen in Chicago. Getragen wurde das fünftägige Training von mehreren örtlichen Projekten der Gemeinwesenarbeit (u. a. in Mainz, Wuppertal und Düren) sowie von Fachorganisationen (Bundesverband für sozial-kulturelle Arbeit, Köln; Bundesverband des Paritätischen Bildungswerks, Frankfurt/Main; Ev. Institut für Jugend- und Sozialarbeit, Burckhardthaus/Gelnhausen; Kölner Institut für Sozialforschung und soziale Arbeit, Köln; Landesarbeitsgemeinschaft Soziale Brennpunkte Hessen, Frankfurt/Main; Landesarbeitsgemeinschaft Soziale Brennpunkte Saar, Saarbrücken).
»›Power to the People‹ – Ein Relikt aus der Revoluzzermottenkiste?« betitelte Maja Heiner ihren Bericht über dieses erste Training zu CO auf deutschem Boden. (8) In ihrem Artikel greift Heiner einen zentralen Aspekt aus Alinskys Konzept auf. »Das Motto ›Power to the people‹ der amerikanischen ›Community Organizers‹ meint dauerhafte, institutionalisierte, selbstverwaltete Macht« (9), wohingegen den in der Sozialen Arbeit Tätigen »Macht« doch eher suspekt erscheine und allenfalls sei hier noch von »Gegenmacht«, z. B. gegen die Bürokratie, gegen die Verwaltung oder gegen den Hausbesitzer, die Rede. »Aber als Sozialarbeiter/innen selbst Machtpositionen anstreben und eine Organisation aufbauen, die sich freimütig dazu bekennt, nach mehr Macht zu streben – das ist Gemeinwesenarbeiter/innen (wie anderen Sozialarbeiter/innen) doch eher fremd«. (10)
Es ist dies der Auftakt einer Auseinandersetzung, die für die weitere Entwicklung von CO in Deutschland prägend sein wird. Es geht um die Frage, inwieweit die sozialarbeiterische Praxis der Gemeinwesenarbeit kompatibel ist mit dem radikal-demokratischen Ansatz Alinskys, der auf den Aufbau einer eigenständigen Bürgermacht zielt. CO »ist nicht GWA ... oder gar soziale Arbeit«, fasst Heiner die Diskussionen zusammen. (11) Als wesentliche Unterschiede der beiden Bereiche führt sie an: