Community Organizing (CO) wird in Deutschland assoziiert mit der Zivilgesellschaft, den Bürgerplattformen und -foren, Kirchen und Moscheen, Bürgerbeteiligung sowie der Gemeinwesenarbeit. Der vorliegende Beitrag schlägt vor, CO sowohl in der Forschung als auch der Praxis im Kontext Sozialer Bewegungen zu verstehen. Denn im CO geht es darum, dass sich Menschen zu handlungsfähigen kollektiven Akteuren zusammenschließen, um tief greifende Verbesserungen der Lebenslagen zu erreichen und verfestigte Machtstrukturen zu verändern; dies ist auch der Kern Sozialer Bewegungen.
Soziale Bewegungen
Frauenbewegung, Arbeiterbewegung, Anti-Atom-Bewegung, Friedensbewegung, Umweltbewegung, Schwulen- und Lesbenbewegung, Bewegungen wie »Recht auf Stadt«, Occupy, Dissidentengruppen in der DDR – alles das sind Formen Sozialer Bewegungen, die sich nur schwer auf einen Nenner bringen lassen. Eine mögliche Definition ist: »Eine soziale Bewegung ist ein Netzwerk bestehend aus Organisationen und Individuen, das auf Basis einer geteilten kollektiven Identität mit Hilfe von überwiegend nicht-institutionalisierten Taktiken versucht, sozialen, politischen, ökonomischen oder kulturellen Wandel herbeizuführen, sich ihm zu widersetzen oder ihn rückgängig zu machen.« (1)
Dass etwas eine Bewegung ist, ist allerdings ihrem Beginn noch nicht unbedingt anzumerken. Oft wurde nach einer Welle von Unruhen in den Vorstädten eine neue Jugendbewegung ausgerufen, von der schon bald niemand mehr sprach. Eine Soziale Bewegung ist ein soziales Konstrukt. Die konkret erfassbare Realität sind auffällige Aktionen und harte Reaktionen, Plakate, Bilder, Texte, und nicht zuletzt Personen, Gruppen und Organisationen, die sich öffentlich exponieren. Dass dieses als Bewegung verstanden wird und einen Namen erhält, ist eine Deutung von innen oder von außen. Ist allerdings eine Bewegung medial und politisch als solche anerkannt, so wirkt dies auch auf das Selbstverständnis und Auftreten ein, sowie im Wechselverhältnis dazu auf die Fremdwahrnehmung und politischen Reaktionen.
Heidi Swarts, die CO als »Progressive Movements« (2) untersucht, unterscheidet zwei gewissermaßen Idealtypen von Sozialen Bewegungen, zwischen denen reale Soziale Bewegungen changieren. (3) Zum Idealtypus A zählt Swarts beispielsweise moralische Reformbewegungen gegen Alkoholismus, anarchistische und neue, postmaterialistische Bewegungen, zum Idealtypus B die Gewerkschaftsbewegung und CO. Ihnen ordnet sie u. a. folgende Eigenschaften zu:
Tabelle: Idealtypen Sozialer Bewegungen
Ideal Type A | Ideal Type B (4) |
---|---|
protest | organizing |
expressive | instrumental |
altruism | self-interest |
purity | compromise |
radical | moderate |
like religion | like politics or economics |
middle-class | working-class |
countercultural | culturally mainstream |
radical egalitarianism | hierarchical |
episodic | ongoing |
Bewegungsforschung
In der nach dem Zweiten Weltkrieg beginnenden Forschung zu Sozialen Bewegungen wurden diese zunächst als eher gefährliches »Collective Behavior« angesehen. Seit den 1970er Jahren geht es seitens der Bewegungsforschung nicht nur um die Erklärung von Sozialen Bewegungen, sondern auch um die Erhöhung ihrer Handlungsfähigkeit und Wirksamkeit. Soziale Bewegungen werden nun nicht mehr nur als kollektive Eruption (eher Typ A) verstanden, sondern als zweckrational begründete und strategisch ausgerichtete Unternehmungen (eher Typ B). (5)
Konkurrierende Paradigmata lösten einander ab, können aber auch als Antworten auf unterschiedliche Fragen verstanden werden. Diese Fragen stellen sich auch dem CO, das als Antworten eine eigene Begrifflichkeit und eigene Instrumente entwickelt hat.
Tabelle: Ansätze der Bewegungsforschung und des Community Organizing
Frage | Forschungsansätze Sozialer Bewegungen | Elemente des Community Organizing (1) |
---|---|---|
Wie werden Menschen Aktionsbeteiligte? | Collective Behavior | Different Mobilizing Cultures (2) |
Warum kommt es zu Sozialen Bewegungen? | Relative Deprivation | |
Welche Strukturen erhöhen die Erfolgschancen der Sozialen Bewegungen? | Political Opportunity Structure/ Political Process | Power Analysis (3) Power and Targets |
Welche Ausstattung brauchen Soziale Bewegungen? | Ressource Mobilisation | Leadership Tactics and Strategy |
Welches Thema ist geeignet, wie wird es strukturiert? | Framing Agenda Setting | Cutting an Issue |
Wie entsteht ein handlungsfähiges »Wir«? | Collective Identity | Private – Civic – Public Hope Is on the Ground One-to-One Interviews |
(1) Schutz/Sandy 2011, Inhaltsverzeichnis Part IV (Key Concepts) und V (Conclusion), mit Ausnahme der beiden nachfolgenden Anmerkungen. (2) Vgl. Swarts 2008, S. 1. (3) Vgl. Trapp 1976, S. 1 ff. |
CO ist aber bisher kaum in das Blickfeld der Bewegungsforschung gelangt, weil diese auf nationale und internationale Bewegungen sieht, aber nicht auf die lokalen Aktivitäten im Grassroot-Organizing, die nach Swarts eine Infrastruktur für Kontinuität geschaffen haben, die von den Wellen der Bewegung relativ unabhängig ist. (6)