Seite 1: Zielsetzung der Methode
Das Bürgerforum ist eine Großgruppenmethode, in der Präsenzveranstaltungen mit Phasen der Onlinekommunikation verknüpft werden. Eine Onlineplattform bietet wichtige Informationen als Arbeitsgrundlage für die Teilnehmer/innen und dient als Kommunikationsplattform. Gemeinsam erarbeiten die Teilnehmer/innen zunächst in einer Auftaktwerkstatt die zu bearbeitenden Herausforderungen. Sie diskutieren diese in einer Onlinephase weiter und erarbeiten ein Bürgerprogramm. Das Bürgerprogramm wird auf einer Abschluss-Werkstatt vorgestellt und mit Vertreter/innen aus Politik und Zivilgesellschaft diskutiert. Es werden konkrete weitere Schritte vereinbart, wie die Ergebnisse in den politischen Prozess einfließen sollen.
BürgerForums zielen darauf, mehr Bürgerinnen und Bürger in Diskussionsprozesse einzubeziehen, sie mit politischen Fragestellungen zu konfrontieren und ihr Interesse an demokratischer Teilhabe zu wecken. Eine strukturierte und moderierte Diskussion mündet dabei in konkrete Ergebnisse. Das BürgerForum wurde seit seiner Entwicklung im Jahr 2008 mehrfach durchgeführt.
Es zeichnet sich durch drei Merkmale aus:
- Die Teilnehmenden sollen in ihrer Zusammensetzung die Vielfalt der Gesellschaft widerspiegeln. In den bisherigen Projekten wurden daher Menschen mithilfe von Zufallsstichproben telefonisch angesprochen und eingeladen.
- Die Verbindung von Offline- und Online-Aktivitäten macht es möglich, individuell unterschiedliche Beteiligungspräferenzen und Beteiligungskompetenzen zu nutzen. Die Kombination aus Präsenzveranstaltungen und einer Online-Diskussion sorgt nicht nur für eine lebendige Debatte, sondern ebenso für eine ergebnisorientierte Arbeitsweise.
- Die Teilnehmenden können ihre lebensweltlichen Erfahrungen und alltagspraktischen Kompetenzen nicht nur in die Erarbeitung von Problemdiagnosen, sondern auch von Lösungsvorschlägen einbringen. Sie erarbeiten gemeinsam weitgehend ohne externe Hilfe politische Vorschläge, die in so genannte »Bürgerprogramme« münden.
Das BürgerForum erweitert die Bandbreite von Problemsichten über die etablierten professionellen Diskurse hinaus. Es lassen sich Lösungsvorschläge erarbeiten, die ansonsten schwer die Auswahlfilter des öffentlich schon Bekannten oder des politisch Korrekten passieren würden und ermöglicht eine frühzeitige Problemwahrnehmung, bevor sich diese im Nachhinein in Protestverhalten artikuliert. Dabei gestalten die Teilnehmenden im BürgerForum einen Deliberationsprozess: Sie argumentieren, treten für ihre Überzeugungen ein und begründen diese, stimmen ab und informieren sich gegenseitig. Zugleich überdenken sie ihre Meinungen, schärfen ihren Sinn für das Gemeinwohl und entwickeln ein Verständnis für die Komplexität politischer Debatten und Entscheidungsfindungen. Mit dieser Methode sollen die »democratic skills« der Teilnehmenden gestärkt werden.
BürgerForen fanden in Deutschland bereits zu verschiedenen Themen auf unterschiedlichen Ebenen statt:
- Die ersten Foren wurden 2008 zum Thema »Soziale Marktwirtschaft« und 2009 zum Thema »Europa« mit jeweils 400 Teilnehmenden aus ganz Deutschland durchgeführt.
- Auf Initiative des Bundespräsidenten fanden 2011 in 25 Städten und Kreisen in Deutschland BürgerForen mit jeweils 400 Teilnehmenden, also insgesamt 10.000 Bürgerinnen und Bürgern, zum Thema »Zukunft braucht Zusammenhalt. Vielfalt schafft Chancen«, statt.
- Aufgrund der langjährigen Erfahrungen hat die Stiftung 2014 gemeinsam mit Projektpartnern das Format weiter optimiert. Die fünf Pilotkommunen Oldenburg, Marburg, Wiehl, Karlsruhe und Remseck am Neckar führten jeweils ein BürgerForum zur Lösung regionaler Herausforderungen komplett in Eigenregie durch. Dabei wurde erstmalig die neu entwickelte Software für die Informations- und Dialogphase zur Online-Beteiligung erprobt.
Auf Basis der Erfahrungen in den fünf Pilotkommunen wurde das Handbuch zur Organisation eines Forums optimiert. Es führt Schritt für Schritt durch die verschiedenen Phasen eines BürgerForums. Konkrete Arbeitsvorlagen und Checklisten erleichtern den Initiatoren die Planung und Durchführung ihres Beteiligungsprozesses. Alle Materialien für die Durchführung des von der Bertelsmann Stiftung und der Heinz Nixdorf Stiftung entwickelten Beteiligungsformats BürgerForum stehen unter www.buerger-forum.info zur freien Verfügung. Für die Durchführung der Online-Werkstatt wird eine Internetplattform unter Open-Source Lizenz bereitgestellt.
Seite 2: Ablauf
Der Beteiligungsprozess dauert sechs bis acht Wochen und beinhaltet sowohl Präsenzveranstaltungen als auch Online-Diskussionen. Er lässt sich in verschiedene Phasen unterteilen:
- Phase 1: Teilnehmereinladung/Prozessvorbereitung
Die 100-400 Teilnehmenden jedes Forums sollen die Vielfalt der Gesellschaft repräsentieren. In den bisherigen Foren wurden sie daher per Zufallsauswahl unter Berücksichtigung sozio-demografischer Faktoren eingeladen. Parallel hierzu werden die organisatorischen Vorbereitungen für die Auftaktveranstaltung getroffen, die Online-Plattform eingerichtet und Informationsmaterialien zusammengestellt. - Phase 2: Vorbereitungsphase
Im Vorfeld informieren sich die Teilnehmer und Teilnehmerinnen auf einer eigens eingerichteten Onlineplattform. Sie machen sich mit der Arbeitsplattform, dem Verfahren und dem Thema des Forums vertraut. Neben Artikeln illustrieren auch Fotos, Grafiken und Videos die verschiedenen Dimensionen des Themas auf eine zugleich informative und unterhaltsame Art. Die Teilnehmenden können jederzeit Fragen an die Organisatoren des Prozesses richten. - Phase 3: Auftaktwerkstatt
Während einer eintägigen Veranstaltung lernen sich die Teilnehmenden kennen und formulieren in verschiedenen thematischen Ausschüssen ihre Ideen, Überlegungen und Anregungen. Dabei arbeiten, angelehnt an ein World-Café, alle Teilnehmenden in einem Raum. Sechs bis acht Personen sitzen an einem Tisch, die Zusammensetzung wechselt und Diskussionsergebnisse werden an Pinnwänden festgehalten. In einem trichterförmigen Diskussionsprozess mit Abstimmungen verständigen sich die Teilnehmenden auf einige zentrale thematische Herausforderungen, die sie weiter bearbeiten möchten. - Phase 4: Online-Werkstatt
In dieser mehrwöchigen Phase erfolgen die Vertiefung der Diskussionen sowie eine Bewertung verschiedener Vorschläge. Als Informations- und Kommunikationsplattform dient eine interaktiv ausgestaltete Webseite. Ergebnis der Online-Arbeit sind von den Teilnehmenden geschriebene und abgestimmte Texte, die in ein Bürgerprogramm münden. Eine besondere Rolle bei der Texterstellung kommt so genannten »Bürgerredakteuren« zu. Die aus dem Teilnehmerkreis heraus gewählten Teilnehmer/innen achten darauf, dass alle Kommentare der Teilnehmenden berücksichtigt werden und daraus nach diversen Abstimmungen ein gemeinsamer Vorschlag entsteht.
Die Plattform ist unterteilt in die vier Bereiche Information (zur einführenden Übersicht und für aktuelle Berichte), Teilnehmerinnen und Teilnehmer (hier können alle Teilnehmenden ein Profil von sich einstellen), Aufgaben (auf dieser Seite wird erläutert, was als nächstes ansteht) und Bürgerprogramm (dort entsteht der gemeinsame Text). Außerdem können die Teilnehmenden Fragen an die Initiatoren stellen und Anregungen geben. - Phase 5: Abschlusswerkstatt
Auf einer mehrstündigen Schlussveranstaltung wird das Bürgerprogramm der Öffentlichkeit vorgestellt und mit Vertreter/innen aus Politik und Zivilgesellschaft diskutiert. Zudem werden mit den politischen Initiator/innen des Bürgerforums konkrete Schritte vereinbart, wie die Forumsergebnisse in den politischen Prozess eingespeist werden.
Seite 3: Wichtige Aspekte bei der Umsetzung
Die Durchführung eines BürgerForums auf kommunaler Ebene zu einem bestimmten Thema setzt zunächst eine Analyse kommunaler Handlungsspielräume voraus. Verhindert werden sollte, dass Bürgerinnen und Bürger eigene Ideen und Vorschläge erarbeiten, um dann gegen Ende des Prozesses mitgeteilt zu bekommen, dass diese aufgrund diverser Restriktionen nicht weiter verfolgt werden können. Ausgehend von dieser Analyse müssen die politischen Initiator/innen eine Erwartungsklärung an Ziel und Inhalte des Verfahrens vornehmen und diese wiederum gegenüber den Teilnehmenden kommunizieren.
Die Auftakt- und die Abschlusswerkstatt werden von einer Moderatorin / einem Moderator moderiert. Er oder sie sollte über Erfahrung in der Moderation von Großgruppenveranstaltungen verfügen. Die Moderation eines komplexen World-Café-Verfahrens unter Beachtung der Teilnehmererwartungen und eines gewissen Ergebnisdrucks setzt eine umfangreiche Vorarbeit voraus.
Die Online-Diskussion wird von Online-Moderator/innen geleitet. Auch diese Funktion setzt eine spezielle Schulung voraus. Jedoch ist die Moderation im Vergleich zu den Veranstaltungen wesentlich zurückhaltender und eine reine Prozessmoderation. Im BürgerForum 2011 wurde die Moderation von ehemaligen, geschulten Teilnehmenden vergangener BürgerForen übernommen. Die Moderatorinnen und Moderatoren kündigen jeweils die Prozessschritte an und ermutigen die Teilnehmenden zur aktiven Teilnahme.
Alle Bürgerinnen und Bürger, die sich für die Teilnahme an einem BürgerForum entschieden haben, verpflichten sich mit der Annahme zur Einhaltung von Spiel- und Diskussionsregeln auf den Veranstaltungen und der Online-Diskussionsplattform. Die Methode sieht vor, dass sich die Teilnehmenden in unterschiedlicher Intensität in den Diskussionsprozess einbringen können. Das kann vom reinen Lesen der Textbeiträge über die Teilnahme an Abstimmungen bis hin zur kontinuierlichen und intensiven Mitarbeit bei der endgültigen Erstellung der Textvorschläge reichen.
Notwendiger organisatorischer Rahmen
Zur Durchführung eines BürgerForums ist ein Team von mehreren Personen notwendig. Inhaltlich abgrenzbare Komponenten des Verfahrens sind etwa die Einladung der Teilnehmenden, die Organisation der Veranstaltungen, die Moderation der Auftakt- und der Abschlusswerkstatt, die technische Bereitstellung der Online-Plattform sowie die Moderation der Online-Diskussion. Unerlässlich ist es, dass ungeachtet aller inhaltlichen Abgrenzungen eine enge Zusammenarbeit aller Beteiligten sowohl in der mehrwöchigen Vorbereitung als auch der eigentlichen Durchführung des Verfahrens erfolgt.
Die Methode ist sinnvoll einzusetzen, wenn ein Leitbild erstellt, ein Thema und die Meinung der Bürger/innen auf die politische Agenda gebracht oder eine bereits stattfindende öffentliche Diskussion zu einem Thema bereichert werden soll. Durch neue Wege der Teilnehmereinladung wird ein Forum geschaffen, das nicht nur die »üblichen Verdächtigen«, also die ohnehin schon politisch Aktiven erreicht.
Das BürgerForum kann als Methode von politischen Institutionen unterschiedlicher Ebenen genutzt werden. Ministerien und Behörden können ebenso Initiatoren des Prozesses sein wie Stiftungen oder gemeinnützige Organisationen. Der Fokus liegt inzwischen jedoch auf der kommunalen Ebene. Hier halten sich die Kosten bspw. für den Reiseaufwand der Teilnehmenden in Grenzen und die Anschlussfähigkeit der Diskussionsergebnisse kann am stärksten gesichert werden. Die potentielle Themenpalette ist dabei sehr breit: Von Bildung (etwa »Wie schaffen wir ideale Lernbedingungen an unseren Schulen?«) über Energie (»Welchen Beitrag kann unsere Stadt zur Energiewende leisten?«) bis hin zu Wirtschaft (»Wie können wir den Einzelhandel in unserer Stadt fördern?«) ist vieles denkbar.
Es ist nicht sinnvoll, die Methode einzusetzen, wenn bereits verhärtete Konflikte zwischen Interessengruppen bestehen und befriedet werden sollen. Eine Anwendung ist zudem nicht angezeigt, wenn ein starker externer Experteninput notwendig ist und wenn nicht ausreichend Zeit zur Verfügung steht. Auch wenn es um eine reine Ja-Nein-Problematik geht (z.B. »Sollen wir die Turnhalle bauen – ja oder nein?«) oder die gemeinsame und perspektivische Ausarbeitung von Ideen und Vorschlägen in den Hintergrund rückt, sind andere Partizipationsmethoden geeigneter.
Stärken und Grenzen der Methode
Stärken
Das BürgerForum nutzt als Beteiligungsmethode die Vorteile sowohl von Präsenzveranstaltungen als auch moderner Arbeitsformen im Internet. Die Teilnehmenden lernen sich auf einer Tagesveranstaltung persönlich kennen und schaffen so die Vertrauensbasis für die Online-Arbeit. Die Online-Diskussion ermöglicht den Teilnehmenden, selbst ihre Partizipationszeit und die Intensität ihrer Beteiligung zu bestimmen. »Leise« Stimmen können sich ebenso wie »laute« einbringen. Das Verfahren versucht Menschen für Politik zu gewinnen, die bislang abseits standen und bringt konsensorientierte Lösungsvorschläge hervor. Durch die unterschiedlichen Partizipationsformen (Offline und Online) sowie die hohe Teilnehmerzahl kann in kurzer Zeit eine hohe öffentliche Aufmerksamkeit erzielt werden.
Die Methode ist durch die Kombination aus Veranstaltungen und Online-Diskussion mit einem größeren Zeitaufwand für die Teilnehmenden verbunden. Auch wenn die flächendeckende Online-Abdeckung in Deutschland rasch voranschreitet, kann die Online-Bezogenheit der Methode teilweise immer noch eine technische Hürde für bestimmte Bevölkerungsgruppen darstellen. Zudem hat das Verfahren im Vergleich zu anderen Bürgerbeteiligungsmodellen einen höheren Komplexitätsgrad.
Seite 4: Literatur und Links
- Bertelsmann Stiftung (Hrsg.) (2008): BürgerProgramm Soziale Marktwirtschaft.Gütersloh.
- Bertelsmann Stiftung (Hrsg.) (2009): BürgerProgramm Europas Zukunft. Gütersloh
- Hierlemann, Dominik/Vehrkamp, Robert/ Wohlfarth, Anna (Hrsg.) (2010): Politik beleben, Bürger beteiligen. Charakteristika neuer Beteiligungsmodelle, Gütersloh.
- Hierlemann, Dominik/Wohlfarth, Anna/Thies, Lars (2011): Beteiligung kommt vor Beratung – Eindrücke, Einsichten und Erfahrungen aus dem BürgerForum. In: Bertelsmann Stiftung (2011): Wie Politik von Bürgern lernen kann. Potenziale politikbezogener Gesellschaftsberatung, Gütersloh, S. 105–114.
- Ulbricht, Tom/ Wohlfarth, Anna (2008): Das BürgerForum Soziale Marktwirtschaft. Bürger entwickeln ihr Bild einer zukunftsfähigen Gesellschaft. In: Zeitschrift für Politikberatung (1) 3/4 2008, 572–586.