»Community Organizing liefert ein ganzes Feuerwerk an Möglichkeiten, die Zivilgesellschaft auf stabilere Beine zu stellen«

Wie hat Deine Auseinandersetzung mit CO begonnen?

Drei Monate nach Alinskys Tod reiste ich im Herbst 1972 nach Chicago. Vermittelt durch Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste e. V. absolvierte ich ein freiwilliges soziales Jahr, sozusagen als Gastarbeiter. Die Community Organizations der Stadt suchten händeringend billiges Personal.

Ich erlebte, als Kulturschock mit Erdbebenstärke, eine völlig neue Art politischen Engagements. Während die deutsche Studentenbewegung nächtelang philosophierte und romantischen Revolutionsvorstellungen nachhing, ging es in den Organizer-Konferenzen, oft ebenfalls bis zum Morgengrauen, um den Wandel selbst, ganz praktisch: Höhe, Breite, Tiefe, Materialien, Kosten. Dazu wurden die Probleme, Frage um Frage, eingekreist:

  • Wo läuft’s unrund in der Nachbarschaft? Ist das Problem unmittelbar und lösbar? Wie viele Leute haben davon gesprochen, wie viele lassen sich dafür mobilisieren? Wer sind die Schlüsselpersonen? Welche Person ist so betroffen und ärgerlich, dass sie eine Versammlung leiten oder eine Aktion anführen würde?
  • Nach der Analyse, Zug für Zug, die Lösungsfindung. Wer war verantwortlich für das Problem? Welche Forderungen konnten ihm gestellt werden? Wenn er kniff, sollten vor dem Versammlungslokal Busse warten, um ihn zu Hause aufzusuchen? Oder effektiver, ihn am nächsten Tag im Büro zu überraschen, vielleicht sogar seinen Boss? Wenn Verhandlungen zu nichts führten, wie ließ sich der Druck erhöhen?
  • Schließlich, oft lange nach Mitternacht, das Allerschwierigste, die Inszenierung: Wer musste in der Nachbarschaft mit wem sprechen, damit sie gelang. Als Organizer war ich kein Akteur, sondern Coach und Navigator, musste die erstellten Schachpartien vorschlagen, die Handelnden aber selber die Strategie festnageln lassen, oft mit Abstrichen, getragen von der Einsicht: Nur wenn die Leute ihr eigenes Ding machten, waren sie motiviert und hielten durch. Am Ende ihres Clinches stand, wie das Amen in der Kirche, ein Sieg, mit allen Mitteln zu erringen, von geradezu therapeutischer Bedeutung. Er flößte den bisher Ohnmächtigen Vertrauen im Umgang mit der Macht ein. Das war meine bislang härteste Lebensschule, gelegentlich von Kaskaden der Freude aufgelockert, wenn die Saat Früchte trug.

Was von CO hast Du in Deiner bürgerschaftlichen Arbeit genutzt?

Meine Ausbilder Tom Gaudette, Shel Trapp und Gale Cincotta sind mein Spiritus Rector, bis heute: Diese Leidenschaft und Power, sich nicht dem Status quo zu beugen, der die Zustände so hässlich einfriert! Shels: »Ein Organizer kann alles, schreckt vor nichts zurück«, ist für mich steter Ansporn, an den Baustellen der Gesellschaft die Ärmel hochzukrempeln.

Ich habe den ADFC mit auf den Weg gebracht, den Bau eines Fußballstadions im Münchner Olympiadorf zur WM 2006 zu verhindern geholfen, den insbesondere in Afrika aktiven Weltverband der Wissenschaftsjournalisten mitbegründet, die Angstselbsthilfe mit Inhalts- und Fundraisingformaten unterstützt. Derzeit treibe ich die TELI-Wissenschaftsdebatte voran, die Bürger/innen in Forschungsfragen eine Stimme gibt, und doktere in Kolumbien mit meiner Familie an neuartigen Freiwilligendiensten herum.

Nach vier Jahren als Organizer in Chicago und San Francisco hatte ich das Handtuch geworfen und in Deutschland eine journalistische Karriere eingeschlagen. Der Job war für mich auf Dauer zu linear, mit wenig kreativen Freiheiten. Das damals ausgeprägt aktionistisch-konfliktive CO-Milieu, im High-Noon-Modus schwingend, hatte hohes Burnout-Potenzial. Doch dem CO-Geist bin ich treu geblieben. Er liefert ein ganzes Feuerwerk an Möglichkeiten, die Zivilgesellschaft auf stabilere Beine zu stellen:

Menschen zu mobilisieren, gemeinsam Grenzen zu sprengen, Machtsysteme auf Augenhöhe herunterzuschrauben, experimentell den Weg in die gemeinsame Welt des dritten Jahrtausends zu suchen. Sozial-robust, inklusiv-partizipativ, postfossil-nachhaltig, resilient-passioniert, mit Spaß, das ist mein Metier.

Wie sieht für Dich die deutsche CO-Zukunft aus?

Vor 20 Jahren etablierte FOCO in Deutschland eine bis dahin weitgehend unbekannte Theorie und Praxis des sozialen Empowerments. Das ist eine stolze Erfolgsgeschichte, umso mehr, als die deutsche Sozialarbeit monopolartig und eher verwaltend von oben nach unten arbeitet. Insofern hoffe ich, dass beide Ansätze einander befruchten, CO die Gemeinwesenarbeit reformiert, aber sich auch neuen Impulsen öffnet, etwa aus der Ökologie.
Wenn ich 40 Jahre Revue passieren lasse und mir die USA heute betrachte, etwa das in mancherlei Weise morbide Chicago, habe ich Zweifel, ob die Macht von CO als Gegenmachtinstrument nicht überbewertet wird. Es muss die ihm von Alinsky verschriebene Kernkompetenz unter die Lupe nehmen, ob es noch ins Zentrum der Macht zielt. Die wichtigsten Entscheidungen, von enormer Tragweite, erfolgen heute im wissenschaftlich-industriellen Komplex.
Beim Zuschleifen passender Instrumente könnte Deutschland bei CO-International wichtige Akzente setzen und moderne Hybride entwickeln helfen. Keinen Daimler, Porsche, sondern einen E-Bulli.

Worin siehst du die Bedeutung von CO?

Mitmenschen zu Regisseuren ihrer eigenen Biografie zu machen. (In Anlehnung an Norbert Herriger: Empowerment in der sozialen Arbeit)


Das Interview wird begleitetet von einem ausführlichen Beitrag von Wolfgang Goede in der kleinen FOCO-Bibliothek.