Pendeldiplomatie

Kissingers Pendeldiplomatie

Im Internet kursiert die folgende Anekdote über den ehemaligen amerikanischen Außenminister Kissinger. Kissinger war bekannt für seine Pendeldiplomatie. Auf einem Empfang wurde er gebeten, zu erläutern, wie sie funktioniert. Er erzählte die folgende Geschichte:

Kissinger fährt nach Sibirien und sucht sich dort einen jungen, kräftigen Bauernburschen. Dem schlägt er vor, er könne die Tochter von Rockefeller heiraten. Da fragt der Bauernbusche: »Warum sollte ich die Tochter von Rockefeller heiraten?« Kissinger antwortet: »Die Tochter wird einmal viele Milliarden Dollar erben«. Das weckt das Interesse des Bauernburschen. »Das ist natürlich etwas anderes!«

Anschließend fährt Kissinger zum Direktor einer großen Schweizer Bank. Er schlägt vor, den jungen Bauernburschen zum Vizedirektor zu ernennen. »Warum sollte ich einen Bauern zum Vizedirektor ernennen?« Da antwortet Kissinger: »Er wird die Tochter von Rockefeller heiraten!« »Das ist natürlich etwas anderes«, antwortet der Bankdirektor.

Als nächstes besucht Kissinger Rockefeller und schlägt ihm vor, seine Tochter mit dem Bauernburschen zu verheiraten. Rockefeller fragt: »Wieso sollte ich das tun?« Kissinger antwortet: »Er wird demnächst Vizedirektor einer großen Schweizer Bank«. »Dann ist das natürlich etwas anderes«, sagt Rockefeller.

Zuletzt spricht Kissinger mit der Tochter von Rockefeller. Er schlägt ihr vor, den zukünftigen Vizedirektor einer großen Schweizer Bank zu heiraten. Sie ist wenig begeistert. Da sagt Kissinger: »Aber er ist ein junger und kräftiger Bauernbursche aus Sibirien!« »Das ist natürlich etwas anderes«, sagt die Tochter.

Lassen wir beiseite, dass die Geschichte eher der Kategorie Altherrenwitz zuzurechnen ist. Lassen wir auch beiseite, dass ich ernsthaft bezweifle, dass Kissinger tatsächlich der Urheber ist. Wahrscheinlich handelt es sich einfach um eine Anekdote, die durch das Internet geistert.

Die Geschichte ist dennoch für Projektmanager/innen sehr lehrreich. Denn sie beschreibt, wie ein Akteur (Kissinger) durch kreatives Handeln sein Ziel erreicht. Die ursprüngliche Bedeutung des Begriffes Kreativität ist: etwas Neues erfinden oder etwas Neues erzeugen. Genau vor dieser Herausforderung stehen Projektmanager/innen im gemeinnützigen Bereich häufig.

Interessant ist die Geschichte auch deswegen, weil in ihr Personen auftauchen, die unterschiedliche Interessen haben. Einige von diesen Personen repräsentieren Organisationen oder Firmen (die Figur des Bankdirektors repräsentiert eine Bank, die Figur Rockefeller steht für ein milliardenschweres Wirtschaftsimperium). Kissinger erreicht sein Ziel, indem er durch diplomatisches Handeln die Interessen der Figuren auf kreative Art und Weise miteinander verknüpft.

Projektmanager/innen haben es häufig mit verschiedenen Kooperationspartnern oder Interessensgruppen zu tun. Zum einen ist da die eigene Organisation oder Gruppe, die bestimmte Ziele verfolgt. Zum anderen gibt es Einrichtungen, die das Projekt finanziell fördern oder die überzeugt werden sollen, dies zu tun. Eine weitere wichtige Rolle spielen die Zielgruppen oder Klient/innen des Projekts. Häufig gibt es noch weitere Gruppen, die alle in irgendeiner Form Teil des Projekts sind – oder die es werden können: Anwohner/innen, Ämter, Spender/innen, Sponsoren, Dachverbände, Eltern, politische Parteien oder Schulen.

Manchmal spricht man auch von den »Stakeholdern« eines Projekts. Dieser Begriff bezeichnet Personen, Gruppen oder Organisationen, die ein Interesse am Verlauf eines Projekts haben oder in irgendeiner Form von ihm betroffen sind. Die Geschichte von Kissinger ist auch ein Beispiel für die Kommunikation mit Stakeholdern. Man könnte auch sagen, Kissinger hat durch sein Vorgehen überhaupt erst einen Kreis von aktiven Stakeholdern aufgebaut.

Noch eine weitere Sache ist bemerkenswert: Zu Beginn der Geschichte hat Kissinger selbst nichts, was er seinen Verhandlungspartnern anbieten kann. Vielen Projektmanager/innen im gemeinnützigen Bereich dürfte diese Situation bekannt vorkommen. Ein Prozess kommt erst dadurch in Gang, dass Kissinger nacheinander das Interesse seiner Verhandlungspartner/innen weckt und die jeweiligen Interessenbekundungen in den darauffolgenden Gesprächen verwendet.
 

Gute Projektmanager/innen beherrschen diese Kunst der Pendeldiplomatie.

  • Sie können die Akteure (Stakeholder) identifizieren, die eine Rolle spielen, wenn ein Ziel erreicht werden soll.
  • Sie sind dazu in der Lage, die unterschiedlichen Interessen der einzelnen Akteure zu erkennen.
  • Sie können diese Interessen auf kreative Art und Weise miteinander verbinden.
  • Sie sind dazu bereit, Risiken einzugehen.

Nicht nur Topmanager/innen, Politiker/innen oder Diplomat/innen wenden diese Technik an. So habe ich einmal einen Herrn aus einem bayrischen Dorf kennengelernt, der auf eine ähnliche Art und Weise Veranstaltungen in seinem Heimatort auf die Beine stellte. Ihm ist die folgende Geschichte gewidmet.

Pendeldiplomatie beim Projektmanagement

Ein Verein möchte Spenden für ein Waisenhaus sammeln. Sabine arbeitet für diesen Verein. Sie ruft zuerst beim Gasthof Dorfkrug an, der einen Veranstaltungssaal mit einer Bühne hat. »Wir möchten am 5. Januar eine Benefiz-Veranstaltung organisieren. Können wir dafür ihren Saal nutzen?« »Das geht«, antwortet der Betreiber. »Damit sich das für uns lohnt, müssen aber etwa 200 Gäste kommen.« »Das ist kein Problem. Es wird dort auch ein Konzert geben, das zieht immer ein großes Publikum an«, versichert Sabine. »Bitte reservieren sie den Saal für uns.«

Danach ruft sie den Bürgermeister an. »Wir werden am 5. Januar im Dorfkrug eine große Veranstaltung organisieren, um Spenden für ein Waisenhaus zu sammeln. Es werden über 200 Gäste kommen. Die Presse wird auch dort sein. Können sie sich vorstellen, die Veranstaltung dort mit einem Grußwort zu eröffnen?« Sabine weiß, dass in einigen Monaten Wahlen stattfinden. Aus diesem Grund wird sich der Bürgermeister über einen öffentlichen Auftritt freuen. »Das kann ich gerne machen«, sagt der Bürgermeister.

Dann ruft Sabine bei einer jungen Band an. »Am 5. Januar findet eine große Veranstaltung im Dorfkrug statt. Wir sammeln dort Spenden für ein Waisenhaus. Wollt ihr dort auftreten?« »Zahlt ihr etwas dafür?« »Ein Honorar können wir leider nicht zahlen. Es ist für einen guten Zweck. Der Bürgermeister kommt auch.« »Der Bürgermeister? Der interessiert uns nicht«, sagt die Band. »Aber ihr hättet die Möglichkeit, vor 200 Leuten zu spielen.« »Das klingt schon besser«, sagt die Band. »Außerdem bekommt ihr Freibier.« »Das klingt großartig«, sagen die Musiker. »Dann sagen wir zu. Wir brauchen aber die Tontechnik für das Konzert, das können wir nicht mitbringen.« »Wir kümmern uns darum«, sagt Sabine. Dann ruft Sabine bei der städtischen Musikschule an. »Wir organisieren am 5. Januar ein Benefizkonzert im Dorfkrug, um Spenden für ein Waisenhaus zu sammeln. Leider fehlt uns die Tontechnik für das Konzert. Könnten sie uns eine Anlage leihen?« »Das klingt sehr sympathisch, aber wenn das eine privat organisierte Feier ist, dann wird das schwierig«, sagt der Leiter der Musikschule. »Wir organisieren das gemeinsam mit dem Bürgermeister. Der wird dort auch eine Rede halten. Dafür brauchen wir die Tontechnik natürlich auch«, sagt Sabine. »Dann können wir das schon machen«, sagt der Leiter. »Können wir eine kurze Anfrage vom Rathaus bekommen?« »Gerne, kein Problem«, antwortet Sabine.

Und so organisiert Sabine weiter. Als nächstes ruft sie einen befreundeten Redakteur der Lokalzeitung an und lädt ihn zu der Veranstaltung ein. Danach muss sie das Büro des Bürgermeisters kontaktieren, damit dieses ein kurzes Schreiben an die Musikschule schickt. Dann muss geklärt werden, wer die Getränke für die Band bezahlt. Und nicht zuletzt muss sich Sabine darum kümmern, dass auch 200 Menschen zu der Veranstaltung erscheinen ...-

Die letzte Geschichte macht deutlich, dass Pendeldiplomatie sogar in der alltäglichen Arbeit eines Vereins eine Rolle spielen kann. Noch wichtiger wird dieses Vorgehen allerdings, wenn es um strategische Entscheidungen geht, die langfristig das Schicksal einer Organisation oder einer Gruppe beeinflussen. Aus diesem Grund ist diese Fähigkeit für Geschäftsführer/innen, Projektleiter/innen, Vorstände oder Gruppenleiter/innen besonders wichtig.

Voraussetzungen für Pendeldiplomatie sind ein sicheres Auftreten, Einfühlungsvermögen und Verhandlungsgeschick. Hinzu kommt eine gewisse Risikobereitschaft. Denn was passiert, wenn man bereits Dinge angekündigt hat, dann aber ein entscheidendes Puzzleteil zur Umsetzung fehlt? Auf das obige Beispiel bezogen: Was wäre, wenn der Veranstaltungsort seine Zusage für die Räumlichkeiten zurückzieht? In diesem Fall sind kreative Problemlösefähigkeiten gefragt. Um Pendeldiplomatie erfolgreich einsetzen zu können, muss man ein wenig frech sein, oder – wie es umgangssprachlich heißt – man muss bereit sein, »sich aus dem Fenster zu lehnen«.

Viele engagierte Menschen tun sich damit etwas schwer. Sie fühlen sich unwohl, wenn sie Versprechungen machen, obwohl noch nicht sicher ist, ob sie diese auch einhalten können. Das Vorgehen von Kissinger (oder Sabine) empfinden manche dieser Menschen als manipulativ. Interessant ist jedoch, dass es viele Projekte und Organisationen gar nicht gäbe, wenn nicht irgendwann eine Person damit begonnen hätte, sich »aus dem Fenster zu lehnen«.

Wichtig ist, seinen Interaktionspartnern nur Versprechungen zu machen, die man grundsätzlich auch einlösen kann. Alles andere ist unseriös. Allerdings zeigen die Beispiele: Manche Dinge werden erst Wirklichkeit, indem man erzählt, dass es sie gibt!