Kreativität und Ethik

Seite 1: Lösungssuche

Kreativ zu sein gilt allgemein als erstrebenswerte und positive Eigenschaft eines Menschen. Ein kreativer Mensch weiß sich und anderen zu helfen, findet Auswege aus Sackgassen, gilt als originell, beinahe als Genie, und das ist bewundernswert.

Diese Sicht muss nicht unbedingt falsch sein, sie ist jedoch keineswegs uneingeschränkt richtig. Der entscheidende Punkt ist das unsichtbare Werturteil, also die unterschwellige Gleichstellung von kreativ = gut, sinnvoll, vernünftig usw.

Hierzu muss deutlich gesagt werden, dass die erlernbare Fähigkeit kreativen Denkens und der fantasievollen Lösungssuche nur eine Technik ist, deren Ergebnisse nicht das Geringste über gut und schlecht, sinnvoll oder unsinnig, verantwortungsvoll oder verantwortungslos aussagen.

Kreativitätstechniken sind so »neutral« wie ein Messer, das sich sowohl fürs friedliche Brotschneiden wie fürs hinterlistige Ermorden eignet. Es lassen sich Lösungen entwickeln, die mir oder meiner Gruppe nutzen, ohne anderen Personen, Gruppen, der Gesellschaft oder der Natur und Umwelt zu schaden. Aber auch das Gegenteil ist möglich: ich kann kreativ sein auf Kosten und zum Schaden anderer, bis hin zu kriminellen Auswüchsen.

Der Ideenreichtum von Schmugglern und Rauschgiftkurieren, von Trickdieben, Steuerhinterziehern und Wirtschaftskriminellen wäre bewundernswert, wenn, ja wenn da nicht das Unbehagen über die ethische Grundhaltung dieser Menschen wäre.

Neben der hiermit angesprochenen Frage der individuellen, persönlichen Ethik und Verantwortung ist auch noch die gesellschaftliche zu sehen. Auch in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Forschung, sowie in der Arbeit von Vereinen, Verbänden und Initiativen werden kreative Lösungen gesucht - und die haben alle auch immer eine ethische Seite.

Die Selbstverständlichkeit, mit der ethische Aspekte weitgehend ausgeklammert werden, hat nicht nur individuelle, sondern auch gesellschaftlich-historische Gründe. Sie hängt einerseits mit einem Überfluss und andererseits mit einem Mangel an Wissen in unserer heutigen Gesellschaft zusammen, die ihre tieferen Ursachen in geistigen Entwicklungen des 16. Jh. haben.

Eine Folge der »Erfindung« des analytischen Denkens (Kopernikus, Bacon, Descartes, Newton usw.) war ein rasanter Anstieg des Wissens in allen Lebensbereichen. Heute kaum noch zu bändigen und zu überschauen sind Berge von

  • Faktenwissen (über Tatsachen)

  • erklärendem Wissen (über nachweisbare Zusammenhänge) und

  • instrumentellem Wissen (Methoden, Programme, Modelle).

Mit dem explosionsartigen Anstieg dieser drei Wissensarten ging ein Rückgang des normativen oder deontischen Wissens, des Was-soll-Sein-Wissens einher.

Mit der Loslösung der Naturwissenschaften aus geistigen, sinngebenden, ja religiösen Zusammenhängen wurde das Wissen um Ziele und Werte, um Normen, Ethik und Moral, kurz um Orientierung für persönliches und gesellschaftliches Verhalten ausgeblendet und den Philosophen und Theologen überlassen - allerdings als Spielwiese ohne große gesellschaftspolitische Bedeutung.

Mit dem explosionsartigen Anstieg dieser drei Wissensarten ging ein Rückgang des normativen oder deontischen Wissens, des Was-soll-Sein-Wissens einher.

Mit der Loslösung der Naturwissenschaften aus geistigen, sinngebenden, ja religiösen Zusammenhängen wurde das Wissen um Ziele und Werte, um Normen, Ethik und Moral, kurz um Orientierung für persönliches und gesellschaftliches Verhalten ausgeblendet und den Philosophen und Theologen überlassen - allerdings als Spielwiese ohne große gesellschaftspolitische Bedeutung.

Seite 2: Forschung

Die Naturwissenschaften und der durch sie bewirkte technische und materielle Fortschritt fanden ihre Rechtfertigung in sich selbst.

Die Ernteerfolge in der Landwirtschaft, die Heilerfolge in der Medizin, die Produktionserfolge in der Industrie usw. deckten die vorherrschende Not durch Hunger, Krankheit und materiellen Mangel so gut ab, dass sich die Frage nach dem Sinn und nach Grenzen kaum stellte. Erlaubt war, was machbar war.

Erst die großen Erfindungen und Entwicklungen dieses Jahrhunderts (nach diesem Exkurs sind wir nun wieder beim kreativem Denken) zeigten deutlicher, dass es kein menschliches Handeln ohne normative Vorgaben gibt und dass streng naturwissenschaftliche Aussagen niemals ausreichen, das Handeln auch zu begründen. Neue, »kreative« Techniken der Biologie und Chemie haben den Ärzten völlig neue Möglichkeiten eröffnet zu heilen, gleicherweise den Militärs aber auch zu töten. Wir kennen die Seelenqualen der Erfinder der Atomkraft, in welcher Weise ihre Erkenntnisse genutzt werden würden und diskutieren heute nicht so sehr, ob es dem Menschen möglich (Kreativität), sondern ob es ihm erlaubt (Ethik) sein kann, Genmanipulation zu betreiben.

Die Gesellschaft sollte zuerst wissen, was sie für sinnvoll und verantwortbar hält, dann kann die Naturwissenschaft dazu beitragen, diese Ziele zu erreichen.

Doch wo finden wir dieses mangelnde, normative, deontische Wissen? Als geistiges Wissen ist es gesamtgesellschaftlich verloren gegangen und als Wissen einzelner kontrovers, schwer vermittelbar und vermutlich nicht konsensfähig. Autorität und religiöse Abhängigkeit haben wir hinter uns gelassen und durch Demokratie und Meinungsfreiheit ersetzt. Dadurch verfügen wir nun über eine Fülle von Zielen, Werten, Ideologien und Meinungen – »zur freien Auswahl«.

Da deontisches Wissen der einzige Wissensbereich ist, in dem es keine Spezialisten mit Führungsanspruch geben kann, ist jeder Einzelne, jede Gruppe, jedes Unternehmen, jede Partei aufgerufen, sich Orientierungen und Entscheidungsgrundlagen zu erarbeiten. Ethik lässt sich nicht auf einen Fachbeitrag der Kirchen zur Diskussion reduzieren.

Kreativitätstechniken, die auch weit überwiegend mit den ersten drei »Überfluss«-Wissensarten arbeiten, stehen mit ihren Ergebnissen ebenfalls vor der Frage der Sinnhaftigkeit, Vertretbarkeit und Verantwortung.

Es ist eben nicht nur »originell« und »fantasievoll«, wenn ein fränkischer Bauer mit seinem Spargel 14 Tage früher auf dem Markt war, weil er mit einer »genialen« Idee seinen Beeten eine Erdöl-Fußbodenheizung verpasst hat. Der Preis in Höhe des Erdöljahresverbrauches von drei Einfamilienhäusern sei »kein Problem«, sagt er, da er den über den höheren Spargelpreis locker wieder reinbekäme. Können Sie da noch andere »Probleme« erkennen?

Wohlgemerkt, es geht mir mit dem Exkurs zur Ethik nicht um eine bestimmte und schon gar nicht um meine Ethik, sondern darum, dass ethische Fragen, die mit Forschung und Entwicklung in dieser Gesellschaft – und eben auch mit kreativer Lösungssuche – untrennbar verbunden sind, so wenig beachtet und diskutiert werden. Diese Vernachlässigung eines wichtigen Aspektes der Wirklichkeit ist Teil der Ursachen von dann neuen, scheinbar »überraschenden« Problemen.