Beispielgeschichte Mühlenviertel

Phase V: Die Maßnahmeplanung – Platzverweis

Inzwischen ist es Anfang November, seit dem Info-Abend im Bürgerzentrum sind knapp zwei Monate vergangen. Nachdem beim letzten Treffen über mögliche Strategien diskutiert wurde, hat die Gruppe verabredet, sich heute der Planung konkreter Maßnahmen und Aktionen zuzuwenden. Die anderen sitzen schon beisammen, als Bastian etwas verspätet in die Gruppe stürmt: »Es wird ernst, Leute! Jetzt müssen wir zeigen, was wir drauf haben!« Er ist so aufgeregt, dass die anderen ihn erst einmal beruhigen müssen, um zu verste­hen, was er sagen will: Die Bloniczs sind akut von der Abschiebung bedroht. Voller Angst, in einer »Nacht-und-Nebel-Aktion« von der Polizei abgeholt und abgeschoben zu werden, ist die Familie zu Freundinnen in eine Nachbarstadt geflüchtet. Bastian hat zwar eine Idee, wie sie zu erreichen sind, aber die Gruppe kommt über­ein, erst einmal alleine zu überlegen, was unternommen werden kann. Außerdem ist man sich einig, dass es nicht nur um diese konkrete Familie gehen soll, sondern auch um die Abschiebepraxis allgemein.

Inge hat ihr großes Zeichenbrett herangeholt, und mitten drauf das Wort 'Aktionsideen' geschrieben.

Dann erläutert sie: »Ich finde, wir sollten jetzt einfach mal all die Ideen aufschreiben, die jede und jeder von uns im Kopf hat. Einige haben wir ja auch bei den letzten Treffen schon mal ausge­tauscht und andiskutiert.«

»Also los«, sagt Matthias und wiederholt grinsend den alten Vorschlag von Bastian, Jauche vor das Rathaus zu kippen ...

Gunda verdreht die Augen, aber Klaus erinnert daran, dass Brainstorming zunächst Sammeln aller Ideen bedeutet und sich die Diskussion an diese Phase anschließt, damit die Kreativität nicht behindert wird. Innerhalb von zehn Minuten entsteht eine lange Liste. »Bevor wir uns jetzt in lange Diskussionen über die einzelnen Vorschläge begeben«, warnt Inge, »sollten wir zunächst mal klären, ob bei allen Vorschlägen klar ist, was gemeint ist. Und danach würde ich am liebsten gucken, welche Vorschläge am besten ankommen. Jede und jeder von uns sollte drei Pünktchen auf die drei Aktionsideen verteilen, die sie bzw. er am liebsten durchführen möchte. Und über die können wir dann gerne diskutieren, sonst reden wir nachher lange über irgendwelche Aktionen, die sowieso niemand machen möchte.« Gesagt – getan. Inge zählt die Voten durch und ermittelt so folgende Reihenfolge:

1. Familie Blonicz verstecken/für eine sichere Unterkunft sorgen

2. Interkulturelles Frühstück vor dem Rathaus mit spontanen Blockadeaktionen

3. Ankettaktion vor dem Flüchtlingsheim

4. Sendung im Lokalradio

5. den Ratsmitgliedern fingierte Ausreiseverfügungen zustellen

6. Unterschriftenliste/Bürgerinnenantrag gegen die Abschiebung

7. Telefonkette für Notfälle

8. Flugblatt für Bewohnerinnen rund um das Flüchtlingsheim

9. Jauche vor das Rathaus kippen

10. Transparente oder Plakate an Brücken und öffentlichen Gebäuden aufhängen

11. Infostand auf dem Weihnachtsmarkt

12. Projektwoche an der Schule zum Thema 'Flüchtlinge' nutzen

13. Sticker herstellen und große Tücher mit dem Symbol aus dem Fenster hängen

14. Plakatwand gestalten

Bastian kommentiert: »Irgendwie sind wir ja doch alle ganz schön aktionsgeil, wenn ich mir mal unsere Stars angucke.« Alle lachen und es schließt sich eine längere Diskussion über die einzelnen Punkte an. Schließlich bemerkt Gunda: »Wenn wir unsere Zwischenziele ernst nehmen, sollten wir bei unserer konkreten Auswahl nicht nur nach dem Lustfaktor entscheiden, sondern auch berücksichtigen, mit welchen Aktionen wir diese Ziele am besten erreichen können.«

Auch Matthias gibt zu bedenken: »Wenn wir jetzt einfach die drei obersten Aktionen verwirklichen, käme die Information der Bevölkerung eindeutig zu kurz.« Diesem Appell will sich niemand verschließen, und die Gruppe verständigt sich zunächst auf eine Kombination von vier der genannten Maßnahmen für die nächste Zeit:

Im Stadtrat soll ein Bürgerinnenantrag gegen die Abschiebung der Familie Blonicz eingebracht werden. Dazu muss jetzt möglichst schnell über die geplante Abschiebung informiert und eine Menge Unterschriften gesammelt werden. Um auf die Situation aufmerksam zu machen, wird ein Infoblatt hergestellt und Kontakt zum Lokalradio aufgenommen.

In dem Infoblatt wird auch eine erste Aktion angekündigt – ein interkulturelles Frühstück, das sich allerdings angesichts der winterlichen Temperaturen zu einer 'Punschparty' wandelt. Die Party soll auf dem Platz vor dem Rathaus stattfinden, der teilweise auch als Parkplatz genutzt wird. In Anlehnung an die oft gehörte Phrase 'Das Boot ist voll' wird es kleine Verkehrsblockaden geben mit dem Motto: 'Der Parkplatz ist voll!'. Damit soll dem Rat und der Verwaltung demonstriert werden, dass es eine ernst zu nehmende Opposition gegen die Abschiebepraxis gibt. Vielleicht kann man damit sogar die Presse und das Lokalradio zu einer Meldung verlocken.

Um die Abschiebung zu verhindern, soll der Familie angeboten werden, einen sicheren, vielleicht auch geheimen Ort für sie zu finden. Deshalb werden verschie­dene Kirchengemeinden angefragt, ob ein Kirchenasyl möglich sei.

Klaus und Bastian freuen sich darüber, dass die Einigung relativ schnell zustande ge­kommen ist . Klaus meint: »Damit haben wir uns zwar viel vorgenommen, aber wir werden das schaffen! Jetzt sollten wir drei Gruppen bilden, die arbeitsteilig vorgehen, denn so wahnsinnig viel Zeit haben wir nicht. Eine Gruppe entwirft das Flugblatt, kümmert sich um die Unterschriftenliste und nimmt Kontakt zum Lokalradio auf. Die zweite beschäftigt sich mit der sicheren Unterbringung und recherchiert wegen des Kirchenasyls, die dritte kümmert sich um die Punschparty. Wer hat Lust, was zu tun?«

In der darauf folgenden Woche stellen die Arbeitsgruppen ihre Ergebnisse vor. Klaus und Beate beginnen mit der Präsentation des Infoblattes. Allen ist wichtig, dass der Text kurz und bündig ist und nicht zu einem politischen Manifest ausartet. Nachdem die Inhalte abgesegnet sind, erklärt sich Beate bereit, bis zum nächsten Treffen einen Layoutvorschlag zu machen, und Matthias erwähnt noch einmal, dass seine Bekannte in einer Druckerei arbeitet, die das Flugblatt sicher zu günstigen Konditionen herstellen kann.

Bastian, Fariba und Matthias, die sich mit der Vorbereitung der Punschparty be­schäftigt haben, legen einen Zeitplan vor und verteilen die Verantwortung für die noch zu erledigenden Aufgaben. Bastian hat Farben mitgebracht und auch einige Bettlaken aus dem benachbarten Krankenhaus besorgt: »Vielleicht könnten wir ja auch heute Abend auch mal etwas Praktisches machen und die Transparente für die Parkplatz-Blockade malen.«

Inge und Gunda haben einen Entwurf für den Bürgerinnenantrag geschrieben, sind sich jedoch überhaupt nicht sicher, ob er den rechtlichen Anforderungen entspricht. »Kennt nicht jemand einen Juristen oder eine Juristin, der oder die mit so etwas Erfahrung hat?« Klaus meint, einen Anwalt fragen zu können, den er noch von früher kennt. Er nimmt den Text an sich und will ihn auch mal mit den Leuten vom Flüchtlingsrat durchsprechen.

Die Liste der offenen Punkte weist nun Zeiten und Verantwortliche aus. Alle sind gespannt und freuen sich darüber, dass es jetzt bald los geht und man die Sache zwar gründlich, aber nicht zu Tode geplant hat. Bis zur ersten Aktion sind es jetzt nur noch zwei Wochen.