»Mit der Diplomarbeit machten wir uns auf die Suche nach dem Politisch-Strukturellen in der Sozialen Arbeit«

Wie kam es, dass CO Thema der Diplomarbeit wurde?

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir vielleicht ein paar Worte zu uns und der Situation sagen, in der wir damals waren: Wir vier haben uns erst beim Studium der Sozialarbeit an der Katholischen Fachhoschule Freiburg kennengelernt und nicht nur zusammen studiert, sondern waren auch bald gut befreundet. Wir waren keine sonderlichen Revoluzzer (höchstens einer von uns leicht anarchistisch angehaucht: Er betrachtete zum Beispiel die Bretter auf Baustellen als allgemeines Eigentum, das sich hervorragend zum Bau von Regalen in der eigenen Studentenbude eignete). Aber wir waren wohl eher etwas kritische Geister und recht motiviert, zu versuchen, Dinge zu verändern, die wir nicht gut fanden, sofern das mit unseren Mitteln möglich erschien. Daher waren wir vier auch nicht unwesentlich daran beteiligt durchzusetzen, dass unser Schwerpunktseminar »Gemeinwesenorientierte Soziale Arbeit« nicht von dem dafür vorgesehenen Hochschullehrer mit miserablem Ruf, sondern von einer bekennenden linken Sozialarbeiterin gehalten wurde. Für GWA als Schwerpunkt hatten wir uns alle entschieden, da es für uns den einzigen Bereich der Sozialen Arbeit darstellte, in dem politische Veränderung ein Fokus war und nicht so sehr die Orientierung am Einzelschicksal. Gerade der Aspekt der Strukturveränderung, der Änderung der Verhältnisse interessierte uns, der aus unserer Sicht in erster Linie dafür verantwortlich war, dass Menschen persönlich in Schwierigkeiten kommen.

Wie es zu dem Entschluss kam CO als Thema unserer Diplomarbeit zu wählen, ist auf diesem Hintergrund schnell erklärt: Wir schreiben das Jahr 1988. In unseren Seminarsitzungen beschäftigten wir uns natürlich mit der Fachliteratur zum Thema. Die klassische politische GWA der 70er Jahre kurz nach der Rezeption aus den USA gehörte in der Theoriediskussion der Vergangenheit an. Darüber sprach und schrieb niemand mehr. Nach dem inzwischen auch schon wieder fast 10 Jahre alten Buch »Gemeinwesenarbeit – eine Grundlegung« von Boulet/Kraus/Oelsschlägel war es auch in der gesamten Theoriediskussion zu GWA völlig ruhig geworden. Hinzu kam, dass es herzlich wenige Praxisberichte und eine sehr überschaubare Anzahl an Einrichtungen und Projekten gab, die sich selbst als GWA bezeichneten oder so bezeichnet wurden. Man sprach auch gar nicht mehr von Gemeinwesenarbeit, sondern von gemeinwesenorientierter sozialer Arbeit, ein Begriff, mit dem wir damals große Mühe hatten. Es schien uns der Versuch zu sein, gerade das Politisch-Strukturelle loswerden zu wollen. Zusammenfassend kann man sagen, dass wir den starken Eindruck hatten, dass zu dieser Zeit ein rechtes Vakuum hinsichtlich der Theorie und Unkenntnis über die Praxis herrschte, die ohnehin nur sehr wenig stattzufinden schien.

So entschlossen wir uns, im Rahmen einer Hausarbeit ein paar Projekte gemeinsam zu besuchen und – wie man das eben so macht – mit einem standardisierten Fragebogen zu erforschen, was zu der Zeit in der Praxis unter dem Namen Gemeinwesenarbeit verstanden und wie gearbeitet wurde. Das war eine besondere Erfahrung und hat viel Spaß gemacht. Wir besuchten damals 6 Projekte in verschiedenen Städten, lernten tolle Menschen kennen und hoch interessante Stadtteilarbeit, die aber sehr unterschiedlich war. Stark politisch war die Arbeit in den meisten Fällen nicht, konnte sie auch nicht sein, denn fast alle Projekte hatten Kürzungen zu verkraften gehabt und waren öffentlich finanziert. Eine politische Ausrichtung von Stadtteilarbeit war damals, so die übereinstimmende Meinung der Praktikerinnen und Praktiker, von den Geldgebern definitiv nicht erwünscht. Aber es waren engagierte Menschen am Werk, die unter schwierigen Rahmenbedingungen einiges bewegten und alle gern viel intensiver GWA-Ansätze verfolgt hätten. Und man kannte sich untereinander. Daher erhielten wir viele Informationen über andere gute Projekte und Einrichtungen und Kontakte von GWA-Kolleginnen und -Kollegen, die wir doch auch noch unbedingt kennenlernen sollten.

Aus diesen Besuchen und dem sonstigen Frust heraus entstand bei uns die Idee, im Rahmen unserer unerbittlich näher rückenden Diplomarbeit unsere erste bescheidene Untersuchung auf eine deutschlandweite Bestandsaufnahme auszudehnen und dabei weiter zusammenzuarbeiten. Massiv trauerten wir zu der Zeit den Ursprüngen der GWA hinterher und bedauerten, dass von den Ideen Saul Alinskys in Deutschland so gar nichts zu entdecken war. Als wir an einem sehr schönen Sommertag zu viert auf dem Weg zur Uni-Mensa (eine angenehme atmosphärische Abwechselung zur behüteten KFH-Idylle) und wieder einmal am Trauern waren, stellten wir uns die Frage, ob es in den USA mit CO eine ähnliche Entwicklung genommen hatte, oder ob dort noch richtiges Community Organizing stattfand. Diese Frage hat uns total elektrisiert. Sofort hatten die beiden kreativen Köpfe unter uns, beide weiblich, den brillanten Einfall, diese Frage mit in die Diplomarbeit aufzunehmen und im Rahmen eines Forschungsaufenthaltes in den USA durch eine entsprechende Untersuchung zu klären. Die beiden »Realisten« unter uns (wir nennen keine Namen) taten diese Idee als Spinnerei ab. Aber die Idee war geboren und verschwand nicht mehr, bis sie umgesetzt war. Ein Hoch auf Menschen mit hochfliegenden Ideen!

Wie habt Ihr Ideen aus dem CO genutzt?

Michaela Neubauer:

Nach meinem Studium war ich als Gemeinwesenarbeiterin in einem sozialen Brennpunkt in Mainz tätig. Natürlich hatte ich da den Anspruch, gutes Organizing zu machen, d.h. Kooperationen im Stadtteil aufzubauen, die Menschen zusammenzubringen, um gemeinsame Probleme herauszufinden und gemeinsam etwas dagegen zu tun. In kleinerem Maßstab ist das auch immer wieder bei einzelnen Themen gelungen. Es war großartig zu sehen, dass CO-Techniken auch in Deutschland funktionieren können. Ein bisschen stolz bin ich, dass die damals von mir initiierte Stadtteilkonferenz nach wie vor existiert. Aber ich hatte letztlich dieselben Begrenzungen wie alle als Sozialarbeiter tätige GWA-ler/innen: Die Beschäftigung mit Einzelfällen nahm viel Raum ein, Aktivierung und Politisierung waren nicht der Auftrag, eher Befriedung. Trotzdem hat es viel Spaß gemacht. In die erste Zeit meiner Familienpause fielen die Gründung von FOCO und die ersten CO-Trainings im Burckhardthaus, anschließende Lehraufträge an der GHS Kassel und der FH Mainz zu CO. Mit der wachsenden Zahl unserer Kinder sank allerdings auch meine Beschäftigung mit Aktivierungsmethoden etc., da mir die Aktivität um mich herum vollauf genügte und es reichlich zu organisieren gab.

Rainer Neubauer:

Beruflich geprägt hat mich die CO-Erfahrung aus den USA, dass Soziales und Wirtschaft durchaus zusammenarbeiten können und dass dies sehr fruchtbar sein kann. Unternehmen waren nicht nur böse, sondern konnten auch Kooperationspartner sein. Diese Erkenntnis hat mich gefesselt und dazu geführt, dass ich nach meinem Studium in die Wirtschaft gegangen bin, um diesen Bereich der Gesellschaft intensiv kennenzulernen. Mein Vorsatz war, das so zwei bis drei Jahre zu machen und dann wieder in den sozialen Bereich zurückzukehren um zu sehen, ob eine Zusammenarbeit dieser hierzulande so getrennten Welten auch hier möglich ist. Ich hatte dann aber das Problem, dass es mir sehr viel Spaß gemacht hat, erst Ceran Kochfelder und dann Gasbrenner in der ganzen Welt zu verkaufen, so dass aus den zwei bis drei Jahren 16 wurden, bis ich wieder zurück in den sozialen Bereich kam. In jedem Fall bedauere ich, dass wir hier in Deutschland bis heute zwei völlig getrennte Welten haben, und die Annäherungsversuche mir zaghaft und das Unverständnis für einander weiter sehr groß zu sein scheinen.

Marion Mohrlock:

Ich begann gleich nach dem Studium im Wuppertaler Nachbarschaftsheim den Stadtteiltreffpunkt und die damit verbundene Gemeinwesenarbeit mit aufzubauen und hatte ein unendliches Feld an Möglichkeiten, das »Studierte« umzusetzen. Fünf Jahre lang war ich leidenschaftlich darin, die Lücke zwischen CO-Anspruch und Wirklichkeit zu schließen. Es hat mir viel Spaß gemacht, die Stadtteilbewohner/innen kennenzulernen, die »Drahtzieher« unter ihnen zu finden und mit ihnen zu arbeiten an den Themen und »Issues« des Stadtteils. Revolutionen haben wir nicht erreicht; aber Bewohnerbeteiligung bei der Errichtung eines Spielplatzes; viele inter-kulturelle Verständigungsprojekte; eine Stadtteilidentität; es wuchs in mir aber auch der große Wunsch, einmal dort praktisch zu arbeiten, wo wir CO bisher nur studiert hatten – in den USA und 1995, nach einer FOCO Studienreise nach Chicago, begann ich in Seattle im King County Organizing Project (KCOP). KCOP, eine IAF affiliierte Organisation, lehrte mich das Organizing von Grund auf. Nach sechs Monaten jedoch gab ich auf. Der in der Organisation herrschenden Kultur des Organizing war ich nicht gewachsen. Flash forward 17 years – nach einem vierjährigen Zwischenstopp in Freiburg wo ich Teil des wissenschaftlichen Teams der in Baden-Württemberg entstehenden Bewegung Bürgerschaftlichen Engagements war – zog ich 2000 nach Seattle zurück, wo ich mit meinem Mann und unseren mittlerweile zwei Jungs lebe. KCOP gibt es nach wie vor, heute heißt es Sound Alliance. Ich habe mich aber entschieden, eine Fundraising Ausbildung zu machen und bin derzeit damit beschäftigt, Geld für eine soziale Organisation einzuwerben.

Welche Relevanz hat CO heute für Euch?

Michaela Neubauer:

Gerade jetzt holt es mich wieder ein. Nach meinem beruflichen Wiedereinstieg vor ein paar Monaten als Schulsozialarbeiterin in einer Brennpunktschule beginnt gerade die Vernetzung mit den anderen Akteuren im Stadtteil. Das macht großen Spaß. Und, man glaubt es kaum: eine kleine Umfrage unter den Kindern an unserer Schule hat ergeben, dass seit Jahren dringend ein Bolzplatz im Stadtteil gebraucht wird, der aber aus irgendwelchen Gründen politisch umstritten ist. Der Reiz, dieses Thema anzupacken, war groß. Jetzt denke ich immer öfter an die CO Prinzipien und Techniken. So langsam beginnen die Nachforschungen, Kontaktaufnahmen. Lange Jahre hatte CO gar keine Relevanz für mich, und auf einmal – pünktlich zum 20-jährigen Geburtstag von FOCO, kommt es wieder – so ein Zufall. Ich bin gespannt, wie unsere Geschichte weitergeht und freue mich sehr darüber, das Thema meines Studiums, das mich mit Abstand am meisten geprägt und fasziniert hat, jetzt wieder aufzugreifen, wenn auch im bescheidenen Rahmen. Denn ich bin städtische Angestellte.

Rainer Neubauer:

Seit dem Ende meines Studiums ging mein Weg nicht in Richtung Stadtteilarbeit und auch nicht in Richtung von politischer Betätigung. Dennoch haben mich CO Prinzipien immer sehr geprägt in dem, wie ich Aufgaben angegangen bin. Prägend war für mich zum Beispiel die Bedeutung von »One on Ones«, die ich eigentlich erst bei den ersten CO-Trainings mit Don Elmer und Ed Shurna im Burckhardthaus Gelnhausen verstanden habe. Oft habe ich seither erfahren, wie wichtig diese One-on-ones sind und das die CO-Technik, solche Gespräche zu führen, unglaublich hilfreich ist. Ebenso wende ich ständig das Prinzip an, Koalitionen zu schmieden, mir Verbündete zu suchen, wenn ich etwas durchsetzen will. Und ich war und bin oft in der Rolle des Organizers, wenn es auch um andere Themen geht. Die Klarheit von CO über die Rolle des Organizers hat mir immer geholfen, meine eigene Rolle zu verstehen und entsprechend zu handeln. So gibt es noch andere Beispiele (»Cut the Issue« etc.), die mir in meinem beruflichen Alltag und auch sonst sehr nützlich sind. Das, was ich durch CO gelernt habe, möchte ich nicht missen.

Marion Mohrlock:

Meine und unsere CO/GWA-Geschichte hat mich in meinem beruflichen Werdegang mit Abstand am meisten geprägt. Ich vermisse die Leidenschaft, mit der wir uns vor über 20 (!!) Jahren aufgemacht haben zu recherchieren, Kontakte zu knüpfen, Trainings zu planen und CO in Deutschland auf den Weg zu bringen.
Einige Werkzeuge aus dem CO Handwerkskoffer kommen bei meiner derzeitigen Arbeit zur Geltung. Wie bei CO, geht es beim Fundraising in allererster Linie darum, Beziehungen aufzubauen und die Visionen der Menschen aufzuspüren, die dafür gewonnen werden sollen, Geld zu investieren. Der »Moves Management« Kreislauf im Fundraising erinnert mich stark an den Aktionskreislauf des CO.
Was mir jedoch eindeutig in meiner derzeitigen Arbeit fehlt, ist die Social Justice Komponente, das Kämpfen für soziale Gerechtigkeit (v. a. in diesem Land der größten Kluft zwischen Arm und Reich). Politische Themen sind nicht erwünscht in meiner Organisation, die bei genug politischen Themen mitsprechen könnte und sollte (von bezahltem Elternschaftsurlaub, über Mindestlohn, zur Situation der Betreuung von Kindern und dem Zustand in öffentlichen Schulen).
Ich bin mir fast sicher, dass es mich irgendwann wieder in das CO-Feld zieht (dann, wenn die Elternschaft mich nicht mehr so sehr in Anspruch nimmt). Einstweilen organisiere ich die Eltern in unserer öffentlichen Schule – ehrenamtlich!