Die aktuelle Gewerkschaftsbewegung nutzt Organizing u. a. in Krankenhäusern, in der Gastronomie, im Reinigungs- und Sicherheitsgewerbe. Die Gewerkschaftsarbeit entwickelt durch Organizing neue Kraft, die Gewerkschaften selbst erneuern und verändern sich.

Erfahrungen austauschen, zusammen handeln – gewerkschaftliches Organizing bei ver.di

Die ökonomischen Verhältnisse haben sich verändert: Outsourcing und Verlegung ganzer Produktionszweige in andere Länder stehen auf der Tagesordnung. Die Kernbelegschaften werden reduziert, der prekäre Sektor wird massiv ausgebaut. Die traditionelle gewerkschaftliche Hausmacht ist massiv beeinträchtigt, Ausmaß und Stringenz des Abbaus von Mitbestimmungs- und Organisierungsrechten sind schockierend.

Andererseits sind viele Probleme der Gewerkschaften hausgemacht: Lange Zeit haben sich Gewerkschaften in Deutschland nicht für die Arbeiter/innen interessiert und sich ganz auf ihre Hausmacht aus weißen, männlichen Facharbeitern konzentriert. Man ging, bei der Kernbelegschaft zu Recht, davon aus, dass die Gewerkschaft oder der Betriebsrat es im Betrieb oder bei den Tarifverhandlungen schon richten werde. Das hat generell zu einer Stellvertreter-Mentalität geführt – auch wenn es sicherlich Beispiele für aktive und lebendige Betriebsstrukturen mit vielen selbstbewussten Vertrauensleuten gibt. Und gegen solche aktive Gewerkschafter/innen richten sich viele aktuelle Angriffe. Seit längerem gehört eine Gewerkschaftsmitgliedschaft nicht mehr selbstverständlich zur Erwerbsbiografie.

Die Gewerkschaften müss(t)en ihre emanzipatorische Funktion, die ihnen schon Karl Marx zugesprochen hat, ausfüllen und den Arbeiter/innen der ganzen Gesellschaft – etwa auch die Kolleg/innen ohne Papiere – die Möglichkeit geben, sich zu organisieren, zu lernen und gemeinsam zu handeln. Und das auch international, was angesichts der Outsourcing-Strategie der Arbeitgeber absolut notwendig ist.

So leicht sich das dahinschreiben lässt, so schwer lässt sich eine im Organizing-Vokabular sogenannte Basis-Aufbau-Strategie entwickeln. Sie ist nur mittel- bis langfristig umsetzbar.
Wer erfahren hat, wie schwer es im Einzelhandel ist, Kolleg/innen mit einer Festanstellung nach dem Einzelhandelstarif und mit einem Leiharbeitnehmervertrag – das sind die Kolleg/innen, die oft nach 18.00 Uhr in den Filialen sind – gemeinsam zu organisieren, weiß, was gemeint ist. Ebenso lehrreich sind die Versuche, mit Kolleg/innen eines in verschiedenen Bundesländern, womöglich auch noch in Ost und West operierenden Unternehmens, eine gemeinsame Arbeitskampfstrategie gegen die spalterische Auslastungspolitik des Arbeitgebers auszutüfteln. Wie schwer dies – angesichts sprachlicher und kultureller Verständigungsschwierigkeiten, wenn nicht gar Rassismen – mit Kolleg/innen aus anderen Ländern sein kann, ist vorstellbar.

Überdies sind speziell bei prekärer Beschäftigung die Kolleg/innen nur schwer über den Arbeitsplatz zu erreichen. Es geht daher immer auch um den Aufbau solidarischer, politisch-sozialer Netzwerke in den Stadtteilen, um einen Ort des Austauschs zu haben, wo sich Kolleg/innen aus verschiedenen Branchen, ihre Familien und Freund/innen über Arbeits-, Wohn- und Mietbedingungen austauschen, vernetzen und gemeinsam aktiv werden können.

Im Dienstleistungsbereich ist zudem festzustellen, dass Kämpfe nur im solidarischen Miteinander von Arbeiter/innen und Kund/innen gewonnen werden können. Die Kampfkraft prekär beschäftigter Kolleg/innen reicht oft nicht aus, um genügend Druck auf einen Arbeitgeber zu entfalten. »Radikale Minderheitenkämpfe« können nur mit Bündnispartner/innen erfolgreich entschieden werden. Auch dafür braucht es Kommunikation und entsprechende Netzwerke.