Mehrgenerationenhaus und Gemeinwesenarbeit (Berlin-Kreuzberg)

Seite 1: Ausgangslage, Vorgehensweise

Das Nachbarschaftshaus Urbanstraße ist seit 1955 ein sozial-kulturelles Zentrum in Berlin-Kreuzberg. Im Sommer 2015 kombinierten die Mitarbeiter/innen des Nachbarschaftshauses die Methode der aktivierenden Befragung mit einem Kiezspaziergang, um auf diese Weise mit den Anwohner/innen des Chamissokiezes – einem beliebten Quartier in Kreuzberg – über die Belange älterer Menschen in der Nachbarschaft zu sprechen und für das Thema »Älterwerden in Kreuzberg« zu sensibilisieren.

Ausgangslage / Rahmenbedingungen

2015 lebten im Chamissokiez etwa 15.000 Menschen, von denen – im Vergleich zu anderen Berliner Stadtteilen – überdurchschnittlich viele Menschen zwischen 30 und 60 Jahre alt waren, während die Anzahl der über 65-Jährigen unter dem Berliner Durchschnitt lag. Allerdings gingen die Prognosen in den nächsten Jahren von einem sprunghaften Anstieg älterer Menschen aus, durch den auch die Altersarmut deutlich zunehmen würde. Schon 2015 waren Neurentner/innen stärker von der Grundsicherung abhängig als in den Jahren zuvor, was nicht nur finanzielle und materielle Auswirkungen auf das Leben hat, sondern auch die gesellschaftliche und soziale Teilhabe der Menschen betrifft.
Um dem entgegenzuwirken, wollte sich das Nachbarschaftshaus Urbanstraße frühzeitig und präventiv der Zielgruppe älterer Menschen widmen und das Thema der Teilhabechancen älterer Menschen aufgreifen, Strukturen zur Teilhabeförderung entwickeln und geeignete Prozesse initiieren. Die aktivierende Befragung und der Kiezspaziergang waren in diesem Rahmen der Auftakt eines längeren Arbeitsprozesses zum Themenfeld »Teilhabe älterer Menschen« im Chamissokiez.

Besonderheiten der Vorgehensweise

Aufgrund der Größe des Kiezes und einem vergleichsweise kleinen Team von neun Befrager/innen verzichteten die Initiatoren als Vorbereitung auf ihr Projekt auf eine klassische Haustürbefragung. Stattdessen wurden zunächst Kiezbegehungen gemacht, um den Kiez besser kennenzulernen und sich ein Bild von wichtigen Akteur/innen aus dem Kiez und möglichen Orte für die Befragung zu machen. Daran anschließend wurden nach der Verteilung von Ankündigungen im gesamten Kiez über vier Wochen hinweg an verschiedenen Orten und Wochentagen zu verschiedenen Uhrzeiten Infostände aufgestellt, an denen die Anwohner/innen befragt wurden.

Als Einstieg in das Gespräch diente stets die Frage, ob und wie lange die Person bereits im Chamissokiez wohnt. Im Sinne der aktivierenden Befragung folgten Fragen zu positiven und negativen Seiten des Lebens im Stadtteil sowie die Frage nach wahrgenommenen Veränderungen der letzten Jahre. Zusätzlich wurde gefragt, ob die Bewohner/innen Vorschläge zur Verbesserung der Situation im Kiez hätten und ob und in welchem Maße sie bereit wären, selbst zur Umsetzung dieser Ziele aktiv zu werden. Um mögliche weitere interessante Informationen zu erhalten, endete jedes Gespräch für die Befragten mit der Möglichkeit, weitere für sie wichtige Themen anzusprechen.
Parallel zu den Anwohner/innen wurden Expert/innen wie Apotheker/innen, Gewerbetreibende und Menschen, die aufgrund ihrer Tätigkeit mit älteren Menschen zu tun haben, interviewt.

Schon während der Befragung im Rahmen der Infoveranstaltungen wurde Werbung für den Kiezspaziergang gemacht, zu dem auch alle Befragten eingeladen wurden. Gemeinsam mit engagierten Bewohner/innen wurden vier verschiedene Routen geplant, auf denen die älteren Bewohner/innen des Stadtteils die Möglichkeit hatten, einer interessierten Öffentlichkeit ihre Sicht auf die Lebenssituation älterer Menschen im Kiez mitzuteilen. Auf den Spaziergängen wurden alle Beobachtungen und Hinweise der Teilnehmenden dokumentiert, um sie als Expert/innen ihrer Nachbarschaft ernst zu nehmen. Am Ende der Spaziergänge kamen alle vier Gruppen im Saal eines Pflegewohnheims zusammen, um die Ergebnisse der aktivierenden Befragung sowie die Beobachtungen aus dem Kiezspaziergang zu präsentieren und nächste Schritte der Weiterarbeit zu verabreden.

Seite 2: Ergebnisse, kritische Punkte

Ergebnisse: Mehrgenerationenhaus und Gemeinwesenarbeit

Die aktivierende Befragung ergab, dass vielen älteren Menschen ein attraktiver Treffpunkt in der Nachbarschaft für Menschen verschiedener Generationen fehlte. Die bereits existierende und fußläufig gut erreichbare kommunale Begegnungsstätte war vielen entweder nicht bekannt oder sie entsprach nicht ihren Vorstellungen eines niedrigschwelligen einladenden Nachbarschaftstreffpunktes. Gespräche mit dem Bezirksamt führten deshalb ein Jahr nach Beginn der Aktion – im Sommer 2016 – zu einem Modellprojekt, das versuchte, eine umfangreichere Finanzierung zum Betreiben der Nachbarschaftseinrichtung zu akquirieren und die Attraktivität der Räume und Angebote der Begegnungsstätte zu steigern. Seit März 2017 betreibt das Nachbarschaftshaus in den unteren Räumlichkeiten der Gneisenaustraße 12 das »Mehrgenerationenhaus Gneisenaustraße«, das durch das Bundesmodellprogramm Mehrgenerationenhaus und das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg finanziert wird.

Zugleich wurden die Ergebnisse der aktivierenden Befragung als zentrale Grundlage für eine Sozialraumanalyse in dem Projektantrag »Würdevoll alt werden im Chamissokiez« genutzt, der eine längerfristige Finanzierung von Gemeinwesenarbeit bzw. Quartiersentwicklung mit dem Fokus auf die Interessen und Bedarfe älterer Menschen zum Ziel hatte. Eine Beantragung von Mitteln aus dem Förderbereich »Quartiersentwicklung« der Stiftung Deutsches Hilfswerk wurde bewilligt.
Konkrete Ziele der Gemeinwesenarbeit sind die Aktivierung vieler Menschen im Kiez, der Aufbau von Gruppen, die für die Interessen älterer Menschen regelmäßig aktiv werden, und die Bildung nachhaltiger Selbstorganisations- und Vernetzungsstrukturen aus Bewohner/innen und Akteur/innen. Zusätzlich werden durch die Sensibilisierung zum Thema Älterwerden und die Qualifizierung zum Umgang mit Älteren Ideenwerkstätten zur Entwicklung und zum Aufbau von Nachbarschaftshilfen durchgeführt. Auch gelang es mithilfe der Finanzierung des Projektes die Kombination aus Komm- und Gehstrukturen an einem weiteren nachbarschaftlichen Treffpunkt in der Trägerschaft des Nachbarschaftshauses Urbanstraße zu übernehmen, womit der Ansatz der Gemeinwesenarbeit insbesondere mit Blick auf die Zielgruppe älterer Menschen ein weiteres Mal gestärkt werden konnte.

Kritische Punkte

Vom Beginn der aktivierenden Befragung im Sommer 2015 bis zur Eröffnung des Mehrgenerationenhauses im März 2017 und dem Start der Quartiersentwicklung zum Thema »Älter werden im Chamissokiez« gelang es den Mitarbeiter/innen des Nachbarschaftshauses nicht, kontinuierlich an den Anliegen der aktivierten älteren Menschen zu arbeiten. Mangelnde Ressourcen erforderten das Setzen von Prioritäten; das Nachbarschaftsbüro konzentrierte sich stärker auf die erfolgreiche Akquise längerfristiger Finanzierungen, wohl wissend, dass sie dadurch einen Teil der aktivierten Bewohner/innen enttäuschten.