Aktivierende Befragung mit Studierenden

Seite 1: Ausgangslage, Ziele, Vorgehensweise

Zum begrifflichen und methodischen Verständnis von Aktivierender Befragung, Gemeinwesenarbeit etc. wird auf Rausch, Günter: Gemeinschaftliche Bewältigung von Alltagsproblemen – Gemeinwesenarbeit in einer Hochhaussiedlung. Münster 1998 verwiesen. In diesem Buch werden auch weitere aktivierende Aktionen beschrieben.

Rahmenbedingungen

Seit ehedem sieht der Ausbildungsplan der Evangelischen Fachhochschule in Freiburg (EFH) am Ende des Studiums ein »Fallseminar« vor. Gegenstand sind konkrete »Fälle« aus der Praxis. In der Regel sind das Aktenlagen. Gemeinwesenarbeit konnte und wollte sich so nicht verorten.

Ein interdisziplinäres Dozententeam (1 Soziologe, 1 Sozialarbeiter, 1 Jurist) startete mit einer Gruppe von Student/innen im Sommersemester 1998 ein alternatives Modellprojekt. Mit 15 Student/innen, denen lediglich 2 Semesterwochenstunden zur Verfügung standen, wurde eine sehr spannende Lehr-/Lernveranstaltung inszeniert, deren Ergebnisse sich unter dem Vorzeichen »Erfolgsgeschichten« diskutieren lassen können.

Ausgangslage

Die Stadt Waldkirch, eine südbadische Kreisstadt etwa 15 Kilometer nördlich von Freiburg im Breisgau, hatte gewissermaßen über Nacht ein soziales Problem. In der 20.000 Seelengemeinde war die Schwarzwälder Pollenhutidylle heftig durcheinander gekommen. Ein TV-Report berichtete von einem Waldkircher Wohnquartier, das nächtens von einem »Poltergeist« heimgesucht würde. Fortan kam dieses Viertel nicht mehr aus den Schlagzeilen. Bei näherem Hinsehen wurden zwar keine Gespenster geortet, aber signifikante soziale Auffälligkeiten. Die Evangelische Fachhochschule für Soziale Arbeit, Gemeindediakonie und Religionspädagogik im nahe gelegenen Freiburg wurde zu Rate gezogen.

Ziele der Aktivierenden Befragung

  • Die Student/innen sollten in einer Ernstlage Gemeinwesenentwicklung exemplarisch kennen- und praktische Handlungsoptionen anwenden lernen.
  • Die Bewohner/innen des Quartiers sollten ihre Bedürfnisse und Probleme benennen und sich in einem Beteiligungsprozess adäquat engagieren können.
  • Politik und Verwaltung sollten für die Probleme des Quartiers sensibilisiert und zur Unterstützung eines umfassenden Partizipationsprozesses gewonnen werden.
  • Hieraus sollten, unter Beteiligung dieser unterschiedlichen Akteure, erste Zielformulierungen und Maßnahmenkataloge entwickelt werden.

Besonderheiten in der Vorgehensweise

1. Klärung der Problemstellung

Bereits vor Beginn der konkreten Seminararbeit wurde in mehreren Treffen mit Vertreter/innen der Kommune die Situation im Quartier besprochen. Ein weiterer Schritt zur Problemklärung war eine Begehung des Quartiers. Arbeitsteilig wurde in Kleingruppen die Umfeldsituation der Siedlung erkundet, Schlüsselpersonen und Multiplikator/innen befragt.

2. Gemeinwesenanalyse in vier Schritten

  • Auswertung von statistischen Daten über die Bewohner/innen und ihre Haushalte
    Vom Einwohnermeldeamt und der städtischen Wohnungsverwaltung wurden die angeforderten Daten geliefert. Durch einen Vergleich von Zugezogenen und Altmieter/innen sollte der »Filtering-Down-Prozess« in dem Wohnquartier dokumentiert und grafisch aufbereitet werden.
  • Auswertung von statistischen Daten über die Bewohner/innen und ihre Haushalte
    Vom Einwohnermeldeamt und der städtischen Wohnungsverwaltung wurden die angeforderten Daten geliefert. Durch einen Vergleich von Zugezogenen und Altmieter/innen sollte der »Filtering-Down-Prozess« in dem Wohnquartier dokumentiert und grafisch aufbereitet werden.
  • Bewohner/innenbefragung
    Neben personalen Fragen standen die Wohnzufriedenheit sowie die Qualität der Beziehungen zu den Mitbewohner/innen im Zentrum des Erhebungsbogens. Außerdem ging es darum, die Bereitschaft zu ermitteln, sich an gemeinschaftlichen Aktionen zu beteiligen. Es wurden Zweier-Gruppen gebildet, die für jeweils eine Quartierseinheit verantwortlich waren. Zwei- bis drei Mal sollten zu verschiedenen Tageszeiten, nach schriftlicher Ankündigung, die Hausbesuche stattfinden. Die Befragung selbst sollte mündlich erfolgen und alle Haushalte einbeziehen. Tatsächlich konnten gut 55% der Haushalte erreicht werden. Etwa 20% verweigerten die Mitarbeit oder konnten auf Grund von Sprachbarrieren nicht sinnvoll interviewt werden. Der Rest wurde nicht angetroffen.
  • Passant/innenbefragung mit Video­aufzeichnung
    In der Kernstadt sollten zufällig ausgewählte Passanten unterschiedlichen Alters Statements über das Wohngebiet und die Bewohner abgeben. Gefragt wurde allgemein nach der Wohnqualität in der Stadt Waldkirch, z.B. wo sie sehr gerne und wo sie gar nicht gerne wohnen wollten. Auf diese Weise sollte das Ausmaß des Quartiers-Stigma, bzw. die öffentliche Meinung über dieses Wohngebiet, dokumentiert werden.
Seite 2: Vorgehensweise, Erkenntnisse, Kontaktadresse

3. Entwicklung möglicher Handlungsziele

Aus der fachlichen Sicht der Gemeinwesenarbeit ist die Beteiligung der »Betroffenen« ganz wichtig auch bei der Auswertung und Interpretation der Befragungsergebnisse und bei der Zielfindung. Medium und Instrument waren die Präsentation der empirischen Befunde und der herausgearbeiteten Problemsichten in mehreren Gruppengesprächen mit Bewohner/innen. Intentional ging es darum, den verschiedenen Beteiligten die Forschungserträge so darzubieten, dass sie zu eigenen Interpretationen, Korrekturen bzw. Ergänzungen herausgefordert wurden. Dabei konnte zweierlei erreicht werden: Einerseits wurden bei den Betroffenen Impulse zum Nach- und Umdenken und letztlich zur Aktivierung gesetzt, andererseits konnten auch bei der Forschungsgruppe neue Deutungsweisen angeregt werden.

Da niemals zuvor in diesem Wohngebiet eine Mieterversammlung oder Ähnliches stattgefunden hatte, musste zunächst erreicht werden, dass überhaupt betroffene Mieter/innen zusammen kommen würden. Die Student/innen begnügten sich nicht damit, etwa Flugblätter in den Briefkasten zu stecken. Es ging von Tür zu Tür: »Klinkenputzen«. Diese Aktion zeigte Wirkung. Zur Versammlung kamen mehr Mieter als Stühle vorhanden waren. Es zeigten sich vielfältige Handlungsbedarfe und ungenutzte Aktivierungspotenziale bei den Mieter/innen.

4. Entwicklung eines aktivierenden Handlungskonzeptes

Vor diesem Hintergrund wurden an mehreren Abenden mit Bewohner/innen erste Handlungsziele formuliert. Das Konzept umfasste bauliche, infrastrukturelle, politische, wirtschaftliche und soziale Maßnahmen. Gefordert wurden insbesondere Mitbestimmung der Bewohner/innen, Einsatz eines/r hauptamtlichen Gemeinwesenarbeiters/in, bauliche Instandsetzungs- und Modernisierungsmaßnahmen an den Wohnhäusern, Auflösung des Obdachlosenhauses, Umsiedlung der »Nutzer/innen« in geeignete Wohnungen mit Mietvertrag, Umbau dieser Notunterkunft zu einem integrativem Stadtteilzentrum.

Zur Ergebnispräsentation wurde in das zentrale Bürgerhaus der Stadt Waldkirch, etwa 15 Gehminuten vom Wohnquartier entfernt, eingeladen. Vertreten waren einzelne Bewohner/innen (Wir hatten nicht bedacht, dass diese räumliche Distanz für die allermeisten Bewohner/innen eine unüberwindbare Hürde darstellen würde. Bei einer späteren Versammlung wurde in den Kindergarten im Quartier eingeladen. Hier kamen dann rund 100 Bewohner/innen.) insbesondere aber die lokalen Spitzen aus Politik und Verwaltung, die so genannte Fachöffentlichkeit sowie Medienvertreter.

Von den politisch Verantwortlichen wurden die Arbeitserträge und Vorstellungen des Seminars einhellig begrüßt, wiewohl die (sozial-) politischen Entscheidungen der Stadt mehrfach kritisiert und finanziell recht weit reichende Lösungsvorschläge vorgetragen wurden. Dass die Lokalpresse dieser Abschlussveranstaltung eine ganze Seite widmete, verweist auf die Wirksamkeit des Projektes.

Erkenntnisse

Das Seminar brachte wertvolle hochschulpolitische Impulse. Und auch in Waldkirch-West blieben die Kuckucksuhren nicht stehen. Inzwischen sind die oben genannten Ziele alle erreicht worden. So wurde z.B. ein neues Stadtteilzentrum ebenso geschaffen, wie eine zusätzliche Planstelle für eine/n Gemeinwesenarbeiter/in. Darüber hinaus wurde eine Beschäftigungsinitiative gestartet, die arbeitslose Jugendliche beim Bau des Gemeinwesenzentrums integrierte.

Voraussetzung für diese Erfolgsgeschichte war sicherlich die Aufgeschlossenheit und Kooperationsbereitschaft der Kommune, die gewissermaßen als Auftraggeber für dieses Projekt fungierte. Ohne einen solchen Partner, der explizites Interesse an verwertbaren Forschungserträgen hat, wird es nicht ohne weiteres gelingen, die Studierenden zu dem erforderlichen, außergewöhnlichen Engagement zu motivieren. Ansonsten erscheint es notwendig, auch professionsethisch kritisch zu fragen, ob es angemessen ist, »von außen« mit Student/innen in ein solches Quartier hineinzugehen.

Aktivierende Befragungen müssen immer verantwortlich mit bedenken, ob und auf welche Weise diese Impulse aufgegriffen und begleitet werden können. Voraussetzung ist allemal, dass die Ziele und die zeitliche Limitierung allen Beteiligten von Anfang an transparent gemacht werden. In der Tradition der klassischen Handlungsforschung sind dies eigentlich Selbstverständlichkeiten (Vgl. Moser, Heinz: Aktionsforschung als kritische Theorie der Sozialwissenschaften. München 1975. Horn, Klaus (Hrsg.): Aktionsforschung. Balanceakt ohne Netz? Frankfurt a. Main 1979.). Hier wird das Forschungskonzept durchsichtig gestaltet und die Zielgruppe wird partnerschaftlich einbezogen.

Die Frage, unter welchen Voraussetzungen überhaupt derartige Aktionen mit Student/innen sinnvoll und verantwortbar sind, darf andererseits aber auch nicht als akademische Ausrede für Praxis- und Politikabstinenz dienen.

Sicher ist es notwendig, dass ein gewisser Leidensdruck bei einer größeren Zielgruppe vorhanden ist, realistische Erfolgsaussichten bestehen und/oder in wünschenswerter Weise auch noch motivierte Kooperationspartner vor Ort zu finden sind. Zugleich sollte nicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet werden, indem die viel zitierten Bedenkenträger/innen obsiegen.

Wenn Studierende bei derartigen Aktionen ihre Ziele und Möglichkeiten von Anfang an konkret benennen und transparent kommunizieren, wenn sie ihre Unternehmungen mit den Beteiligten absprechen und wenn sie keine unhaltbaren Versprechungen verbreiten oder entsprechende Erwartungen verbreiten, steht dem praktischen Handeln im Feld nichts mehr im Wege. Auch kleine überschaubare aktivierende Befragungsaktionen, deren Ziele erreichbar und von allen Beteiligten als lohnenswerte Anstrengung vermittelt werden können, dürfen sinnvoll sein. Sie werden dann von Anfang an so kommuniziert, dass allen Mitwirkenden klar ist, dass das zeitliche Engagement der Studierenden befristet ist, eventuell weiter gehende Maßnahmen dann jedoch gegebenenfalls unter anderer Regie stattfinden müssten.

An der EFH Freiburg haben wir solche begrenzten, studienbegleitenden Gemeinwesenarbeit-Projekte wiederholt mit Erfolg durchgeführt. Mitunter fanden sich Anschlussmöglichkeiten, manchmal konnte gewissermaßen ein Knoten gemacht werden und hier und da gab es sogar überraschende Entwicklungen, weil der Funken, der unter der Asche still weitergelodert hatte, eines Tages wieder entflammte.

Adresse

Prof. Dr. Günther Rausch
Darriwald 2
79108 Freiburg
Tel.: 0 76 65/ 44 74
Fax: 07 61/ 4 78 12 51
E-Mail:profrausch@web

Autor

Dieser Beitrag von Günther Rausch ist folgener Publikation entnommen:
Handbuch Aktivierende Befragung: Konzepte, Erfahrungen, Tipps für die Praxis (Bonn 2012)
Die Publikation finden Sie hier.