eNewsletter Wegweiser Bürgergesellschaft 8/2019 (21.8.2019)
Inhalt
- Meldungen aus der Bürgergesellschaft
- Im Fokus: Gemeinwesenarbeit und Demokratie
- Publikationen und Veranstaltungen
Meldungen aus der Bürgergesellschaft
Berlin-Monitor 2019: Vernetzte Solidarität, fragmentierte Demokratie
Berlin ist eine Stadt der Vielfalt, aber auch eine Stadt, in welcher Ungleichheitsverhältnisse wirksam sind. Wie nehmen die Bewohner/innen das Leben und Zusammenleben im Land Berlin war? Wie weit verbreitet sind Vorurteile und die Abwertung von Anderen? Wer macht welche Erfahrungen von Diskriminierung oder Ausgrenzung? Welche Gestaltungsräume werden wahrgenommen? Wer zieht sich zurück oder sieht keine Möglichkeit der Teilhabe? Und wie steht es um die demokratische Alltagskultur in Berlin? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt des Berlin-Monitors 2019, einem gemeinsamen Forschungsprojekt der Universität Leipzig und der Hochschule Magdeburg-Stendal im Auftrag des Landes Berlin. Neben der Untersuchung politischer Einstellungen der Berliner Bevölkerung und deren Diskriminierungserfahrungen, liegt ein Schwerpunkt des Berichts auf der Verbreitung von antisemitischen Einstellungen und der Betroffenheit durch Antisemitismus. Dargestellt werden erste Ergebnisse einer repräsentativen Befragung von 2.005 Berliner/innen sowie einer Aktivierenden Befragung von Akteur/innen im Bereich Antisemitismus.
Der Berlin-Monitor 2019 im Wortlaut (PDF)
Studie: Urbane Dörfer
Ein schleichender Bevölkerungsschwund und eine starke Alterung der Bevölkerung kennzeichnet viele entlegene Landstriche in Ostdeutschland. Seit Kurzem erprobt eine kreative urbane Szene mit innovativen Wohn- und Arbeitsprojekten, wie sich neue Formen digitaler Arbeit mit dem Landleben verbinden lassen. Vor allem Berufstätige im Bereich von Wissens- und Kreativberufen haben die Möglichkeit, örtlich flexibel und digital ihrem Job nachgehen. Die in diesem Zusammenhang entstehenden Projekte zieht es in der Regel nicht in Neubauten am Stadt- oder Dorfrand, sondern sie interessieren sich eher für alte und baufällige Gebäude in der Ortsmitte. Eine aktuelle Studie hat nun 18 solcher Projekte untersucht; sie zeigen, wie »Stadtmüde« in Dörfern und Kleinstädten gemeinschaftliche Wohnformen und innovative Arbeitsmodelle entwickeln und erproben. Und welche Geschäfts- und Versorgungsideen neben den Wohnprojekten vor Ort noch entstehen.
Die Studie im Wortlaut (PDF)
Mehr Demokratie: Vorschlag zur Reform des Bundestagswahlrechts
Vor dem Hintergrund der anhaltenden Diskussionen um eine Reform des bundesdeutschen Wahlrechts setzt die Nichtregierungsorganisation Mehr Demokratie auf einen Bundestag ohne Überhangmandate mit maximal 598 Sitzen. Die Organisation schlägt in einem aktuellen Positionspapier eine Personenwahl vor, die mit einem Verhältnisausgleich verbunden wird: Die Parteien sollen entsprechend ihrer Stimmenzahl proportional im Parlament vertreten sein. Etwa 90 Prozent der Abgeordneten könnten direkt gewählt werden, während 10 Prozent über eine Bundesliste der Partei abgesichert wären. Grundidee für den Vorschlag ist die Wahl in Mehrpersonenwahlkreisen, nach der Deutschland zukünftig aus etwa 70 Wahlkreisen bestehen würde. Pro Wahlkreis sollen Parteien die Möglichkeit bekommen mehrere Kandidaten aufzustellen. Anstatt wie bisher nur eine Parteienstimme (Zweitstimme) abzugeben, sollen Wählerinnen und Wähler die Möglichkeit bekommen bis zu drei Personenstimmen abzugeben, um so mehr Einfluss darauf zu haben, welche Personen sie im Parlament vertreten. Jugendliche sollten außerdem ab 16 Jahren aktiv wahlberechtigt sein.
Kampagne gegen Diskrimierung von Menschen mit Behinderungen
Die Aktion Mensch hat über 500 Menschen mit Behinderung und chronischen Erkrankungen zu ihren Erfahrungen mit Diskriminierung befragt. Das Ergebnis: Jede/r Zweite erlebt Diskriminierung aufgrund seiner/ihrer Behinderung. 52 Prozent der Befragten mit Beeinträchtigungen sind außerdem überzeugt, dass Diskriminierungen in der Gesellschaft weiter zunehmen. Bei der Frage nach den drei wichtigsten Akteuren, die diesem Trend entgegenwirken sollten, nennen mehr als drei Viertel (77 Prozent) alle Mitglieder der Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund führt die Aktion Mensch ihre aktuelle Kampagne »Inklusion von Anfang an« weiter. In einem neuen Kampagnenfilm berichten Betroffene über ihre Diskriminierungserfahrungen. Interessierte finden auf der Website die Möglichkeit, sich auf unterschiedliche Weise als #Inkluencer aktiv gegen Diskriminierung zu engagieren. Der »Förderfinder« bietet zusätzlich die Möglichkeit, Fördermöglichkeiten für eigene Projekte zu entdecken.
EWSA-Preis der Zivilgesellschaft
Der Preis der Zivilgesellschaft des Europäischen Wirtschaft- und Sozialausschusses (EWSA) wird dieses Jahr zum elften Mal vergeben und soll als Anerkennung und Ansporn für Initiativen und Errungenschaften von Organisationen der Zivilgesellschaft und/oder Einzelpersonen dienen, die erheblich zur Förderung der gemeinsamen Werte als Grundlage von Zusammenhalt und Integration in Europa beigetragen haben. Das Thema des Preises 2019 ist »Stärkung von Frauen in Europas Gesellschaft und Wirtschaft«. Damit sollen Initiativen und Projekte zur Verbesserung der Chancengleichheit von Frauen und Männern und für mehr Gleichbehandlung in allen Bereichen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens gewürdigt werden. Die Bewerbungsfrist endet am 6. September 2019, der Preis ist mit insgesamt 50.000 Euro dotiert. Teilnahmeberechtigt sind Initiativen oder Projekte, die bereits umgesetzt wurden oder derzeit noch umgesetzt werden.
Deutscher Nachhaltigkeitspreis 2019
Osnabrück, Aschaffenburg und Bad Berleburg sind die Sieger des Wettbewerbs um den Deutschen Nachhaltigkeitspreis für Städte und Gemeinden 2019. Die Auszeichnung würdigt Kommunen, die ihre Stadtentwicklung im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Möglichkeiten vorbildlich nachhaltig gestalten und die in einzelnen Bereichen erfolgreich beispielhafte Nachhaltigkeitsprojekte umgesetzt haben. Alle Siegerkommunen zeichnen sich insbesondere durch ihr strategisches sowie partizipatives Vorgehen in puncto Klimaschutz und Erhaltung der Artenvielfalt aus. So wurde beispielsweise die Stadt Osnabrück unter anderem für ihre gelungene Bürgerbeteiligung zur Zukunft und nachhaltigen Gestaltung der Osnabrücker Innenstadt ausgezeichnet, die Stadt Aschaffenburg für ihre mit viel bürgerschaftlichem Engagement grundierte Pflege traditioneller Streuobstwiesen zum Schutz der Biodiversität. Den drei Siegerstädten stellt die Allianz Umweltstiftung ein Preisgeld von jeweils 30.000 Euro für Nachhaltigkeitsprojekte zur Verfügung.
Im Fokus: Gemeinwesenarbeit und Demokratie
Demokratie und Partizipation: Gemeinwesenarbeit im aktuellen Konfliktfeld zwischen Rechtspopulismus und Integration
Gemeinwesenarbeit leistet bei der Integration, Inklusion und Unterstützung von Migrant/innen und geflüchteten Menschen vielfältigste Beiträge. Dabei geht es beispielsweise um die Integration in Bildungssysteme, in den Arbeitsmarkt, in demokratische Entscheidungsprozesse sowie um Empowerment und Emanzipation. Aber Gemeinwesenarbeit hat regelmäßig auch mit denjenigen Menschen zu tun, die nationalistische und rassistische, demokratiefeindliche und rechtspopulistische Einstellungen äußern. Gemeinwesenarbeit steht also mitten im Konfliktfeld zwischen Rechtspopulismus und Integration. Was das für die Praxis bedeutet und was die Gemeinwesenarbeit tun kann, um dieses Konfliktfeld mitzugestalten, zeigt Martina Ritter in ihrem Gastbeitrag.
Empowerment und Gemeinwesenarbeit: Von radikaldemokratischen Wurzeln, definitorischer Unübersichtlichkeit und der lokalen Dimension des Politischen
Mit den Begriffen Empowerment und Gemeinwesenarbeit sind individuelle Selbstbehauptungs- und politische Veränderungsprozesse, kollektive Organisationsformen und gesellschaftliche Machtfragen verbunden. In der professionellen Sozialen Arbeit deuten vor allem deren armutsbekämpfenden und radikaldemokratischen Wurzeln darauf hin, dass eine machtvolle Einflussnahme »von unten« mit gesellschaftlichen Veränderungen Hand in Hand geht. Der Begriff Empowerment wird heute jedoch eher abstrakt und bedeutungsoffen verwandt. Die Konturen der Gemeinwesenarbeit sind im Großen und Ganzen unscharf; als eigenständiger Handlungsansatz ist sie wenig ausgeprägt. Klare Begriffsbedeutungen und neue Strukturen scheinen erforderlich: Was kann Gemeinwesenarbeit als Praxisansatz konkret bewirken und was meint heute der Empowerment-Begriff? Von wem werden Partizipations- und Selbstorganisationsprozesse unterstützt und umgesetzt? Wie lassen sich Empowerment und Gemeinwesenarbeit im Spannungsfeld des schwindenden sozialen Zusammenhalts und den Forderungen nach einer Repolitisierung Sozialer Arbeit zukunftsorientiert buchstabieren? Diesen Fragen geht Ingeborg Beer in ihrem Gastbeitrag nach.
Die Bedeutung inter- und transkultureller Kompetenz für eine herrschaftskritische Gemeinwesenarbeit
Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat inter- und transkulturelle Kompetenz für die demokratische Kultur in Gesellschaften mit kulturellen Unterschieden als eine Schlüsselkompetenz herausgearbeitet. Sie ist notwendig für den interkulturellen Dialog, der »für die Einbeziehung aller Bürger in die demokratische Diskussion, Debatte und Überlegung« als lebenswichtig gilt. Bedeutsam an dieser These ist, dass hier neben der individuellen auch eine institutionelle Ebene ins Spiel kommt. Nicht nur für die Befähigung des Einzelnen ist diese Kompetenz wichtig, sondern es sind auch entsprechende Strukturen innerhalb der Institutionen notwendig, damit sich eine demokratische Kultur entwickeln kann. Welche Konsequenzen sich hieraus für die Gemeinwesenarbeit ergeben, analysiert Aninka Ebert in ihrem Gastbeitrag.
Demokratieentwicklung im Quartier
Quartiere, Stadtteile, Siedlungen oder Bezirke sind Handlungsräume, in denen die Bewohnerinnen und Bewohner sich als aktive Mitgestaltende von Lebensräumen erleben und einbringen können. Demokratische Beteiligung im Quartier bedeutet, die dort wohnenden Menschen mitdenken, mitmachen, mitgestalten und mitentscheiden zu lassen. Entscheidend sind dafür unterschiedliche Formate und eine wertschätzende Ansprache, die Menschen dabei unterstützt, sich auch längerfristig für ihr Quartier verantwortlich zu fühlen und sich aktiv einzumischen. Die Hamburger Lawaetz Stiftung setzt sich in diesem Sinne für Demokratieentwicklung in Quartieren ein. Karin Schmalriede und Karin Robben schildern in ihrem Gastbeitrag praxisnah, wie solche Prozesse verlaufen.
Gemeinwesenarbeit und Partizipation vor Ort: Ein Praxisbeispiel aus Berlin
Das Gebiet »Heerstraße Nord« liegt am westlichen Rand Berlins und ist eine Großwohnsiedlung im Bezirk Spandau. Gekennzeichnet ist das Gebiet durch Punkthochhäuser und mehrgeschossige Gebäuderiegel, welche in den 1970er Jahren gebaut worden sind. Seitdem hat »Heerstraße Nord« viele Wandlungen erfahren: Vom begehrten Wohnquartier zum Gebiet mit der höchsten Leerstandsquote in Berlin oder – aktuell – zum Zuzugsgebiet für Menschen, die sich in den Innenstadtbezirken Berlins die Mieten nicht mehr leisten können. Wie Jugendliche durch die Übernahme eines Parkplatzes im Quartier die lokale Gemeinwesenarbeit vor neue Herausforderungen stellen und wie die Teilhabe marginalisierter Gruppen an Partizipationsprozessen im Stadtteil gelingen kann, erläutert Petra Sperling in ihrem Gastbeitrag.
Publikationen und Veranstaltungen
Publikation: Neutralitätsgebot in der Bildung
An deutschen Schulen gilt das Neutralitätsgebot. Demnach dürfen Lehrkräfte im Unterricht keinen politischen Einfluss nehmen wie etwa zur Wahl einer bestimmten Partei aufrufen. Gleichzeitig ist es ihre Aufgabe, die kritische Auseinandersetzung mit Rassismus und Rechtsextremismus zu fördern. Doch wie können Lehrer/innen rassistische Positionen von Parteien thematisieren, ohne dabei gegen das Neutralitätsgebot zu verstoßen? Dieser Frage geht die Publikation des Deutschen Instituts für Menschenrechte nach. Der Autor kommt zu dem Ergebnis: Wird der Grundsatz der gleichen Menschenwürde und der Rechtsgleichheit eines jeden Individuums in Frage gestellt, haben Lehrer/innen sowie Akteure im Rahmen staatlich geförderter Bildungsarbeit dem zu widersprechen, auch wenn es sich um Positionen politischer Parteien handelt. Wesentlich ist allein, dass die Auseinandersetzung sachlich erfolgt.
Hendrik Cremer: Das Neutralitätsgebot in der Bildung. Neutral gegenüber rassistischen und rechtsextremen Positionen von Parteien? Berlin 2019, 36 S., ISBN 978-3-946499-50-3, kostenlos
Zum Download (PDF)
Publikation: Frei, fair und lebendig – Die Macht der Commons
Commons sind so alt wie die menschliche Gesellschaft. Der Begriff stammt ursprünglich aus dem vorindustriellen England. Die Grundrechte der Menschen sollten seinerzeit durch Nutzungsrechte an »commons« abgesichert werden. Viele unterschiedliche Dinge können zu Commons werden: Grund und Boden, Saatgut, Rohstoffe, Wasser, Wissen, Kunst und Kultur, ein Gesundheits- oder Bildungssystem, Software und anderes mehr. Die Autor/innen entwerfen auf Grundlage der Commons ein Programm für ein gelingendes Miteinander, ein anderes Politikverständnis und ein sorgendes Wirtschaften. Im Mittelpunkt stehen dabei Commons-Praktiken.
Silke Helfrich, David Bollier: Frei, fair und lebendig. Die Macht der Commons. Bielefeld 2019, 400 S., 19,99 Euro, ISBN 978-3-8376-4530-9
Veranstaltungshinweise
Zahlreiche Veranstaltungen sind im Veranstaltungskalender des Wegweisers Bürgergesellschaft zu finden. Besonders hinweisen möchte wir dieses Mal auf:
26.9.2019 in Berlin: Institutionalisierung der Zusammenarbeit mit Eltern im interkulturellen Bildungskontext
Eine Veranstaltung des Bundeselternnetzwerk der Migrantenorganisationen für Bildung & Teilhabe (bbt)
28.9.2019 in Erfurt: opentransfer CAMP Demokratie
Ein Barcamp der Stiftung Bürgermut