Appreciative Inquiry

Seite 1: Einführung, Erlebnisse als Motor für Wandel, Anwendungsfelder, Ziele

»Die wahre Entdeckung besteht nicht im Finden von neuen Ufern, sondern im Sehen mit anderen Augen.« 
(Marcel Proust)

Einführung

Stellen Sie sich vor, in Ihrer Arbeit hat es wieder einmal so richtig gut geklappt – Sie waren erfolgreich und haben sich rundum wohlgefühlt. Sie kommen nach Hause und fangen an zu erzählen »Stell Dir vor, was mir heute passiert ist, ...«. Diese Geschichte erzählt uns unendlich viel über Mensch und Situation. Sie hilft uns, uns einzufühlen und zu verstehen. Wie können wir so erfreuliche Erlebnisse für einen kraftvollen Wandel von Menschen, Teams, Organisationen oder Gesellschaften nutzen?

Herausragende Erlebnisse als Motor für den Wandel

Stellen Sie sich eine Gruppe von Bürgern einer Stadt vor, die zusammenkommt, um ihre Zukunft zu gestalten. In den ersten Stunden tauschen die Menschen in Zweier-Interviews ihre wertvollsten Erlebnisse aus, die sie mit ihrer Stadt verbinden. In Wertschätzenden Interviews stellen sie sich gegenseitig Fragen, wie z.B.: »Erzählen Sie mir bitte von einem persönlichen Erlebnis, das Sie so sehr mit Ihrer Stadt verbindet, dass Sie froh sind, hier zu leben oder zu arbeiten. Was hat dies wirklich ermöglicht? Was können wir daraus lernen?«.

Diese sorgfältig vorbereiteten Fragen helfen die persönlichen »Schätze« – sowie die besonderen Qualitäten, die in dieser Stadt schlummern – aufzudecken. Dadurch entsteht eine fundamentale Veränderung der Wahrnehmung hin zum Wertvollen. Alle Beteiligten erlangen so ein tieferes Verständnis für ihre Stadt. Aus diesen individuellen Erlebnissen heraus entwickeln die Bürger neue Ideen und gestalten eine kraftvolle konkrete Vision. Beim Verwirklichen stellen sie sich die Frage: »Wie setzen wir unsere Vision in die Tat um und womit nähren wir unsere Kraft und Motivation?«.

Anwendungsfelder

So könnte ein Appreciative Inquiry (AI-) Prozess mit seinen drei Phasen Verstehen, Visionieren und Verwirklichen aussehen. AI – Wertschätzende Entwicklung/Wertschätzendes Lernen wurde Ende der 80er Jahre von Dr. David Cooperrider und Suresh Srivastva als ein kraftvoller Ansatz für den Wandel »entdeckt«. Grundprinzip von AI ist es, immer nach den wertvollen Dingen zu suchen und zu sehen, wie wir diese vermehren können.

Deshalb beginnt der Wandel auch mit der ersten Frage, die wir stellen. Wenn Sie daher einem Bürger(meister) einer Stadt begegnen, stellen Sie ihm doch mal die Frage: »Was schätzen Sie wirklich daran, Bürger(meister) dieser Stadt zu sein?«.

Appreciative Inquiry bringt die »Schätze« von Menschen, Teams,  ganzen Organisationen, Gemeinschaften und Gesellschaften zum Leuchten und nutzt diese zur Weiterentwicklung. Dabei arbeiten wir an den konkreten Aufgabenstellungen, wie z.B. Standortattraktivität erhöhen, Gemeinschaftssinn stärken, Strategie neu ausrichten, Prozesse gestalten, Qualität erhöhen, Teams entwickeln und Menschen motivieren.

Speziell im Bereich Lokale Agenda kann es eingesetzt werden für:

nachhaltige Entwicklungen, Kooperationen mit der lokalen Wirtschaft, Bürgerbefragungen, Aufbruchstimmung erzeugen, Selbstverantwortung erhöhen, kooperative Lösungen finden und etablieren, Hilfe zur Selbsthilfe.

Zusammengefasst: Appreciative Inquiry kann in fast allen Situationen eingesetzt werden, wenn man es als eine Philosophie oder Grundhaltung begreift und einen Werkzeugkoffer zur Gestaltung einer ausschließlich an den Ressourcen orientierten Entwicklung einsetzt. Sie werden dann zwar von der »Standardmethode« AI abweichen, aber dafür eine optimale Lösung für Ihre Situation entwickeln.

Ziele

Die Ziele, die mit Appreciative Inquiry verfolgt werden, sind:

  • Energie erzeugen und aufrechterhalten
  • vorhandene Ressourcen optimal nutzen
  • Verständnis für die Sichtweisen der anderen schaffen
  • Gemeinsamkeit und Unterschiede wertschätzend bewusst machen
  • Gemeinschaft schaffen und Verantwortung übernehmen
  • die Vielfalt als fruchtbar erkennen
  • diese Vielfalt »unter einen Hut« bringen und nutzen
  • neues Lernen schneller ermöglichen, denn aus Erfolgen lernen geht viel schneller und macht auch viel mehr Freude
  • die Wirkungsmechanismen hinter Erfolgen verstehen
  • erkennen, wie eng die sogenannten »hard« und »soft« facts miteinander verbunden sind
  • Menschen ein gesundes Selbstwertgefühl geben
  • »Es ist viel mehr wertvolles vorhanden, als wir andauernd glauben«
  • Fragen zu stellen, die Neues, Unbeantwortetes hervorbringen
Seite 2: Rahmenbedingungen, Bewertung

Organisatorische Rahmenbedingungen

Gruppengröße 1 bis ...

Appreciative Inquiry kann vom einzelnen Menschen über die Gruppe bis zur Großgruppe und bei ganzen, gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen eingesetzt werden. Denn AI besteht im Wesentlichen darin, wertschätzende, das Wertvolle herausschälende Fragen zu stellen. Der Umgang damit in den unterschiedlichsten Gruppengrößen ist eine Frage, wie ich die entsprechenden Informationen bzw. Geschichten erzeuge, verdichte und wieder verteile. Bei großen Gruppen spielen die methodischen und logistischen Elemente der Großgruppenverfahren eine wesentliche Rolle. Insgesamt hängt es aber immer von meinen Zielen ab, die ich verfolge – diesen muss sich die Prozessgestaltung unterordnen. Daher steht bei AI am Anfang immer eine sehr präzise Auftragsklärung, deren Ergebnis das Thema für den AI-Prozess ist, welches von Energie getragen wird.

Als Materialien kommen vor allem kreative Materialien zum Einsatz, die ein lebendiges Lernen unterstützen. Nutzen Sie Ihre bisherigen Instrumente und Materialien, mit denen Sie vertraut sind.

Für die entstehenden Kosten kann hier keine Pauschale angegeben werden, aber sie setzen sich wie bei anderen Entwicklungsprozessen zusammen aus Kosten für: Teilnehmer, Prozessbegleiter, Material, Räumlichkeiten, Verpflegung, Reise ...

Bei Großgruppen machen oft die Räumlichkeiten (2 – 3 m² pro Teilnehmer) und die Verpflegung den entscheidenden Anteil aus. Der Aufwand für einen AI-Prozess ist meistens etwas höher als für andere Prozesse. Dies liegt daran, dass im Vorfeld eine intensivere Vorbereitung erfolgt, da die Fragen für das Wertschätzende Interview und für den Prozess passend entwickelt werden müssen. Dafür sind die Ergebnisse aber umso nachhaltiger und von höherem Wert.

Die Prozessbegleiter sollten von ihrer Persönlichkeit her schon eine sehr wertschätzende Haltung mitbringen. Darüber hinaus ist es aber sehr wichtig, dass die Prozessbegleiter bereits einen AI-Prozess am eigenen Leib erlebt haben und durch ein AI-Training mit seinen speziellen Dynamiken vertraut sind.

Bewertung

Appreciative Inquiry lässt sich fast überall einsetzen, aber ich muss natürlich den Boden dafür bereitet haben. Fälschlicherweise wird AI fast immer mit einer positiven Sichtweise gleichgesetzt, so als würde AI das Negative ignorieren, doch das ist ein Trugschluss. Erstens spreche ich lieber von wertvollen anstatt positiven Dingen, da ein großer Unterschied zu dem sogenannten Positiven Denken besteht. AI geht viel tiefer und setzt bei den Wirkungsmechanismen an. Den negativen Dingen wird Raum gegeben, aber es wird nicht ständig nach ihnen gesucht.

Wenn man davon spricht, dass sich Appreciative Inquiry für alles einsetzen lässt, dann stimmt das zwar, funktioniert aber natürlich nur für das richtige Thema für diese Gruppe von Menschen. Denn das Thema muss Energie besitzen, ja sogar versprühen. Deshalb ist die Auftragsklärung zu Beginn eines AI-Prozesses so entscheidend.

Setzen Sie bereits bei Ihrer ersten Frage AI ein, und nicht erst nachdem Sie »die Fakten« geklärt haben. Wandel beginnt mit der ersten Frage, die wir stellen.

Das AI-Thema kann das ursprünglich vermutete Thema sein oder auch ein völlig anderes. Wenn Sie mit einem völlig falschen Thema in einen AI-Prozess gehen, wird es immer schwieriger und zäher, je weiter Sie im Prozess fortschreiten und je konkreter die Arbeit an dem Thema wird. Wenn Sie jedoch das richtige Thema mit Hilfe eines sehr allgemeinen AI-Prozesses gefunden haben, dann wird die Energie der Gruppe immer weiter ansteigen, je konkreter es in dem Prozess wird.

Es gibt auch Situationen, wo Sie AI nicht einsetzen können. Es sind Situationen, wo es keine Möglichkeit für eine gute Auftragsklärung mit den Beteiligten gibt oder wenn sich eine konkrete Erwartungshaltung aufgebaut hat. Wenn Sie diese in dem Moment nicht erfüllen, dann ist der ganze Prozess vorbei; erfüllen Sie sie aber, kann es sein, dass damit auch partizipative Ansätze auf längere Sicht nicht in Frage kommen.

AI lässt sich daher überall dort einsetzen, wo Sie die Offenheit und Unterstützung für den Einsatz von partizipativen Verfahren vorfinden. Sollten diese Freiräume eng sein, dann müssen Sie sehr genau einschätzen, wie weit Ihr Rahmen gesteckt ist, und innerhalb dieses Rahmens können Sie AI nutzen.

Ein Schwachpunkt von Appreciative Inquiry ist, dass es scheinbar mehr Zeit braucht für einen AI-Prozess. Die Teilnehmer glauben in den Workshops kaum, wenn man Ihnen sagt, dass Sie jetzt insgesamt zwei Stunden für ihre beiden Wertschätzenden Interviews Zeit haben. Wenn Sie dann zurückkommen, hört man fast immer, dass die Zeit viel zu knapp war und die ein oder andere Gruppe gar nur ein Interview geschafft hat.

»Wenn Du der Schnellste sein willst, dann gehe langsam.«

Die besonderen Stärken von AI wurden ja bereits bei den Zielen beschrieben, jedoch sollte man nochmals hervorheben, dass es sich gerade in besonders schwierigen Situationen als höchst hilfreich erwiesen hat, wieder Land zu gewinnen, die Menschen zusammenzubringen und die Zukunft anzupacken.

Autor

Walter Bruck
Menschenorientierte Unternehmensentwicklung
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