Der Stadtteil als Ort des Handelns
Der Wunsch nach Beteiligung, nach Diskussion und Handeln in der Stadt ist vor allem dann präsent,
- wenn wir von Entscheidungen direkt betroffen sind
- wenn wir uns auf einen Ort als Lebensmittelpunkt eingelassen haben
- wenn wir die Situation vor Ort gut kennen
- und wenn die Verhältnisse in ihren Zusammenhängen überschaubar sind.
In mittleren bis großen Städten sind die mit diesen Faktoren angesprochenen Dimensionen, nämlich Betroffenheit und Expertentum, weniger auf die Gesamtstadt bezogen vorhanden, sondern betreffen am ehesten den eigenen Stadtteil, sie sind »vor der eigenen Haustür« und nicht irgendwo in der Stadt zu finden.
Gegenstand des Handelns von Bürger/innen im Stadtteil sind all die Dinge, die sie nicht lediglich als Einzelne, als Kund/innen der Verwaltung betreffen, sondern die die Gesamtsituation im Stadtteil angehen: die Spielplätze und Spielräume für Kinder, die Verkehrsführung, Kinderbetreuung, die Stadtbücherei, die Plätze und Treffpunkte für Erwachsene. Der Stadtteil ist Bezugspunkt und Identifikationsgröße für die Bürger/innen mit ihrer Stadt und deshalb prädestiniert, so die These, Ansätze für einen neuen Umgang mit der Stadt zu verorten.
Eine solche Verortung ist jedoch nur möglich, wenn es für das Handeln der Bürger/innen im Stadtteil eine Struktur gibt, einen Rahmen, der Handeln überhaupt erst ermöglicht. Wir nannten diese Struktur »Stadtteilforum«.
Ausgangslage
Das Projekt Stadtteilforen in Tübingen geht auf eine Initiative der Verwaltung zurück, und zwar auf eine Initiative der Sozialverwaltung. Die Idee, in der »kleinen, großen Stadt«, wie Walter Jens die Stadt Tübingen einmal nannte, Stadtteilforen zu realisieren, hatte etliche Wurzeln; die drei wichtigsten möchte ich hier skizzieren:
- die Diskussion um die Krise des Sozialstaats,
- die Frage, was Integration in unserer modernen, differenzierten Gesellschaft bedeuten kann,
- die Diskussion um Bürgerschaftliches Engagement und das Unbehagen an der Entfremdung der Bürger/innen von ihrer Stadt.
1. Die Krise des Sozialstaats
Die Debatte um die Krise des Sozialtstaats wird seit Mitte der achtziger Jahre in den sozialwissenschaftlichen Fachdiskussionen breit geführt. Konrad Hummel, Leiter der Geschäftsstelle Bürgerschaftliches Engagement im Ministerium für Arbeit und Soziales in Baden-Württemberg, beschreibt sie folgendermaßen:
»Undurchschaubar erscheinen zahlreiche Regelungen, Organisationen und Entscheidungsverfahren im Sozialstaat. Eigenwillig und nicht immer dankbar erscheinen die Klienten in den verrechtlichten Strukturen des Sozialstaats. Unübersehbar schrumpft die Leistungsfähigkeit der immer kleineren Familieneinheiten zusammen für die Eventualitäten und Schicksalsschläge eines Lebens. Gleichzeitig steigen Versicherungs- und Sozialabgaben für die Solidarrisiken der Gesellschaft.«
Kurz: Das, was wir die Erosion des Sozialen nennen, und die daraus entstehenden Probleme wachsen, die Mittel, diese Probleme zu bewältigen, wachsen nicht mit. Müssen wir uns in dieser Situation, so war die Frage, als Fachleute sozialer Arbeit nicht mehr um das Soziale im Allgemeinen, also um die Organisation des gesellschaftlichen Miteinander kümmern, gleichsam mit der Aufgabe, »Netzwerke« zu schaffen, die eine Antwort auf diese Erosion der »naturwüchsigen Solidarität« darstellen können?
2. Integration heute
Unsere moderne Gesellschaft, insbesondere die moderne Stadt, ist mit Begriffen von Unterschiedlichkeit und Differenz eher zu beschreiben als mit Begriffen von Einheitlichkeit und Integration; ethische und ethnische, religiöse, kulturelle und soziale Unterschiede sind ein Faktum auch in einer eher traditionell geprägten, schwäbischen Mittelstadt wie Tübingen. Dabei scheinen die einzelnen Teilbereiche und Segmente dazu zu tendieren, sich zu verselbstständigen und gleichgültig zu werden gegen andere.
Aus dieser Gleichgültigkeit entsteht ein »Verstummen« im öffentlichen Raum. Man beschäftigt sich nicht mehr miteinander, Auseinandersetzungen finden nicht mehr, jedenfalls nicht mehr öffentlich statt (die Leserbriefseiten der Lokalzeitung einmal ausgenommen).
Stattdessen ist in vielen Städten ein Prozess der Segregation, der Entmischung zu beobachten mit der Folge, dass Stadtteile »umkippen« – die sozialen Probleme scheinen nicht mehr zu bewältigen zu sein. Gibt es nicht trotz aller Differenz, so die Frage, ein Bedürfnis nach Integration, nach Vermischung an den Rändern, einem Prozess, in dem aus Miteinander-Reden, Zuhören und Verstehen wenigstens partiell etwas Neues, Gemeinsames wachsen könnte?
3. Bürgerschaftliches Engagement
Bürgerschaftliches Engagement findet heute jeder gut. Es gibt kaum eine öffentliche Rede, in der es nicht beschworen wird. Das macht misstrauisch. Es besteht die Gefahr des Missbrauchs von Bürger/innen, der darin bestehen würde, sich ihrer zu bedienen, wenn es hilft, Geld zu sparen, ihnen aber ihre Inkompetenz und Ohnmacht vor Augen zu führen, wenn sie etwas fordern, was nicht vorgesehen und deshalb unbequem ist. Die Erfahrungen der engagierten Bürger/innen mit der Verwaltung– auch das muss man bedenken – sind eher schlecht. Sie wird immer noch als willkürlich, obrigkeitsstaatlich und mächtig erlebt, undurchschaubar in ihrem Zuständigkeits-Wirrwarr, unzugänglich für Wünsche nach umfassender Information, ignorant gegenüber den Wünschen nach Einflussnahme und Mitgestaltung.
Gerade das Bedürfnis nach Einflussnahme und Mitgestaltung aber prägt die neuen Formen Bürgerschaftlichen Engagements. Immer mehr Bürger/innen werden aktiv, um ihre Angelegenheiten selbstorganisiert, gemeinsam und öffentlich in die Hand zu nehmen. Dabei weist schon der Begriff »bürgerschaftlich« auf die bürgerrechtliche und politische Dimension des Begriffs hin.
Bürgerschaftliches Engagement in diesem Sinn braucht einen öffentlichen Raum, ein Forum, in dem bürgerschaftliche Fragen diskutiert, ausgehandelt und unterschiedliche Meinungen vertreten werden können.
Ein solcher Raum bietet auch die Möglichkeit, das Verhältnis von Bürger/innen und Verwaltung neu zu definieren – allein schon dadurch, dass hier Verwaltungsvertreter/innen eingeladen werden können, öffentlich Rede und Antwort stehen müssen und die Bürger/innen aus ihrer Bittsteller-Rolle entlassen werden. Dieser Rollenwechsel lohnt sich auch für die Verwaltung, angesichts der Tatsache, dass der Erfolg kommunalpolitischer Bemühungen in Zukunft entscheidend von der Verantwortungs- und Mitwirkungsbereitschaft der Bürger/innen abhängig sein wird.