Community Organizing

Seite 1: Aus den USA lernen?, Beziehung – Aktion, 4-Augen-Gespräch

Das Organisieren von Bürgerengagement auf breiter Basis – kann man das in den USA lernen?

Community Organizing (CO) ist Organisationsarbeit in Stadtteilen, Städten oder Regionen. Durch den Aufbau einer Beziehungskultur und durch gemeinsames Handeln tragen Bürger zur Lösung von Problemen in ihrem Umfeld bei. Organizing ist zutiefst den Prinzipien von Demokratie und Selbstbestimmung verpflich­tet.
Community Organizing ist nicht einfach der amerikanische Begriff für das, was in Deutschland Bürgerinitiative genannt wird. Im Organisationsansatz bestehen grundlegende und lehrreiche Unterschiede.

  • Bürgerinitiativen in Deutschland erschöpfen sich oft in einem Thema: in der Abwehr einer zu befürchtenden Änderung. Ihr Motor ist ein punktuell notwendiger Protest durch Einwohner, durch Betroffene. Sie enden mit Erfolg oder Misser­folg einer Aktion.
  • Community Organizing ist auf Dauerhaftigkeit angelegt. Es gibt genügend Fragen, die einer öffentlichen, wertebegründeten Einmischung bedürfen. Im CO geht es nicht so sehr um Abwehr, sondern um positive Veränderungen und um die Fähigkeit, diese herbeizuführen. Ihre Organisatoren wissen: Durchsetzungsfähigkeit bedarf eines breiten Bündnisses von Menschen aus vielen unterschiedlichen Gruppen und Organisationen, wie zum Beispiel Kir­chengemeinden, Gewerkschaften, Bürgerinitiativen, lokalen Institutionen und Verbänden. Deshalb startet CO nicht mit der Besetzung eines öffentlichen Streitthemas, sondern mit dem Aufbau vertrauensvoller Beziehungen, die zu Handlungsfähigkeit führen.

Beziehung – Aktion – mehr Beziehung – erfolgreichere Aktion

Eine neue Organisation beginnt daher zunächst mit vielen Einzelgesprächen. Daraus ergeben sich Hinweise auf Missstände, auf Änderungswürdiges, das besser gemeinsam angegangen wird. Eine neue Organisation geht mit ihrer ersten Aktion einen kleinen, überschaubaren Konflikt an, den sie sicher gewinnen wird. Das bringt Ansehen und neue Beziehungen. Die Denkfigur dieser sozial-kapitalen Bewegung ist: Beziehung ermöglicht erfolgreiche Aktion, die wiederum mehr und bessere Beziehungen fördert, die dann erfolgreichere und größere Aktionen erlauben. So kommt Power in die Bewegung, zu deutsch: »Macht!« Was damit gemeint ist, formuliert Saul D. Alinskys, Begründer, erster Theoretiker des CO und selbst ein höchst erfolgreicher Organisator, so: »Der einzige Zweck einer Organisation ist Macht«, denn »Macht ist die körperliche, geistige und moralische Fähigkeit zu handeln.«
In den USA ist die Arbeitsweise des Community Organizing in vielen Großstädten seit über einem halben Jahrhundert erfolgreich.

Das 4-Augen-Gespräch, die »Geheimwaffe des CO«

Am Anfang eines neuen Organizing-Projektes ist eine Fülle von Einzelgesprächen zu führen, in denen es um die persönliche Beziehung, um die persönlichen Sichtweisen der Beteiligten und Betroffenen geht. Die Eigeninteressen, die Motivation und die Problemsicht der beteiligten Bürger treten in den Vordergrund. »Organisieren ist das aktive Ausgra­ben der Geschichte eines Menschen, die gemeinsame Untersuchung der Bedeutung der Geschichte und die Gelegenheit, für die persönliche und gemeinsame Geschichte einen neuen Schluss zu schreiben«, so formuliert Larry McNeil diesen Aspekt.
Vorrangige Aufgabe und wesentliche Quali­tät dieser Phase ist Beziehungsarbeit, ist das Ausfindigmachen von sich engagierenden Bürgern und die Wei­terentwicklung ihrer Fähigkeiten. Diese »Schlüsselpersonen« leiten die Organisation und bestimmen deren Ziele. Die Organisation gibt bei ihrer Gründung selbst kein inhaltliches Programm vor. Die Or­ganisation stellt gewissermaßen den Rahmen für ein selbstbestimmtes gemeinsames Handeln.
Für ein erstes Beziehungsgespräch sollten 30–60 Minuten eingeplant werden, es findet bevorzugt unter vier Augen statt und am Ende sollten beide Teilneh­mer voneinander wissen, was Ihnen wichtig ist, was sie bewegt. Das Gespräch endet mit der Frage: »Mit welchem Menschen sollte ich ein ähnliches Gespräch führen?«
Zum Berufsbild eines »Organizers« kann es gehören, 20 oder 30 solcher Gespräche pro Woche zu führen. Da es sich dabei nicht nur um eine Technik, sondern – dies wird betont – um eine Kunst handelt, wird ausführlich mit den ehrenamtlichen Führungspersonen trainiert.
Menschen, die andere Menschen dazu bringen können, mitzumachen und dabei zu bleiben, haben im CO ein höheres Ansehen, als solche, die öffentlich gut reden können.

Seite 2: Empfehlungen für erfolgreiche Organisation

Empfehlungen für erfolgreiche Organisation

Breite Basis ermöglicht taktische Erfolge

Eine »Community« Organisation wird durch die Beteiligung vieler Menschen mit vielfältigem Hintergrund gebildet, die oft zusammen mit schon bestehenden Or­ganisationen in das neue Bündnis kommen. Bewusst werden Men­schen unterschiedlichster Herkunft und Interessen angesprochen. Veränderungen bedürfen eines breiten Konsenses. Keine einzelne Mitgliedsorganisation soll die Arbeit dominieren können. Als Organisation des »dritten Sektors« tritt sie eigen­ständig und selbstbewusst gegenüber Markt und Staat (den beiden anderen Sektoren) auf. Sie handelt und verhandelt mit der Phantasie und Kreativität, aber auch mit dem Durchsetzungsvermögen, das aus der breiten Basis entsteht.

Breites Themenspektrum ist Voraussetzung für Bündnisfähigkeit

Eine »Community« Organisation zeichnet aus, dass sie an wechselnden, von den Mitgliedern in vielen Einzelgesprächen und Gruppentreffen bestimmten Themen arbeitet. Sie kümmert sich um den konkreten Teil eines Problems, aus dem sich ein Erfolg versprechender Aktionszusammenhang ergibt. Tragender Impuls der Kooperation bleibt das Selbstinteresse der Mitglieder, das durchaus so gewendet werden kann: »Helft ihr uns bei dieser Aktion, helfen wir euch bei einer folgenden, die euch wichtig ist.«

Unabhängigkeit ist Voraussetzung für öffentliches Ansehen

Eine »Community« Organisation finanziert sich aus mehreren Quellen, nicht überwiegend aus der öffentlichen Hand. Konsequent wird angestrebt, die eigenen Aktions-, Organisations- und Personalkosten selbst aufzubringen. Mindestens 50 % sind Eigenmittel aus Mit­gliedsorganisationen oder -beiträgen. So bleibt sie kon­fessionell und parteipolitisch unabhängig und kommunalpolitisch konfliktfähig. Über eigene Organisationsmittel zu verfügen (und eben nicht am Tropf der kommunalen Gemeinwesen-Förderung zu hängen), ist Voraussetzung dafür, von der Administration und der Geschäftswelt als Verhandlungspartner ernst genommen zu werden.

Dauerhaftigkeit bedarf der Professionalität

Eine »Community« Organisation ist auf langfristige und kontinuierliche Veränderung, auf mehr Demokratie ausgerich­tet. Das wird über ständige Beziehungsarbeit, durch Organisieren und Umorganisieren erreicht, was – auch das ist die Erfahrung aus 50 Jahren CO - im Interesse der Sache professionell begleitet werden muss. Deshalb wird der überwiegende Teil der eigenen Mittel für Personal, für gute Organisatorinnen und Organisatoren ausgegeben.
Das Selbstverständnis eines guten Community Organizers lässt sich in einer »eisernen« Berufsregel zusammenfassen: »Tue nie etwas für Menschen, das sie selbst tun können.« Doch darf hinzugefügt werden: »Tue alles dafür, dass die Menschen in der Organisation können, was sie tun wollen.« Die Aufgabe des Organizers ist es, nicht selbst zu führen, sondern führende Personen zu finden, zu unterstützen, ihre Fähigkeiten zu trainieren und sie in ihrem persönlichen Wachstum zu begleiten. Die Menschen in der Organisation werden nicht an den Entscheidungen »beteiligt«, sondern bestimmen die Richtung.

Die zentrale Taktik: Persönliche Verantwortlichkeit einfordern

Amerikanische CO-Engagierte vergeuden keine Zeit damit, abstrakt »den Staat« oder »das System« zu bekämpfen. Gefragt wird immer: »Aus welchem konkreten Teil eines Problems ergibt sich ein Aktionszusammenhang zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen?«
Dazu wird konkret die für einen Missstand verantwortliche Person, der Firmen- oder Bankchef, der Bürgermeister, der lokale Polizeichef ausfindig gemacht und öffentlich an seine Verantwortung erinnert. Diese Person ist das konkrete Gegenüber, der »Gegner« oder die »Zielscheibe« der laufenden Aktion. Wie man den unten beschriebenen Taktiken entnehmen kann, ist diese Person in einer äußerst ungemütlichen Situation, so dass sie, nicht zuletzt aus Selbstinteresse, versuchen wird, zu einer Lösung beizutragen. Gelingt das, wird CO diesen Beitrag öffentlich anerkennen. Bewusst wird auf andauernde persönliche Feindschaft verzichtet.

Die Taktik, Macht von den Besitzenden zu nehmen

Alinskys Anweisung macht anschaulich, wie es dabei zugeht: »Taktik bedeutet, das zu tun, was man kann, mit dem, was man hat.«
»Taktik nennt man die bewussten und freiwilligen Handlungen, die es den Menschen er­möglichen, miteinander zu leben und mit der übrigen Welt fertig zu werden. In unserer Welt des Gebens und Nehmens ist Taktik die Kunst des richtigen Gebens und Nehmens. Wir wollen uns hier mit der Taktik des Nehmens beschäf­tigen; nämlich wie sich die Besitzlosen Macht von den Besitzenden nehmen kön­nen.

  • Macht ist nicht nur das, was man hat, sondern das, von dem der Gegner glaubt, dass man es hat.
  • Verlasse niemals den Erfahrungsbereich der eigenen Leute.
  • Wo immer möglich, verlasse den Erfahrungsbereich des Gegners.
  • Zwinge den Gegner, nach seinen eigenen Gesetzen zu leben.
  • Spott ist die mächtigste Waffe des Menschen. (Ist in der vorhergehenden Regel enthalten.)
  • Eine gute Taktik ist die, die den Mitgliedern Spaß macht.
  • Eine Taktik, die sich zu lange hinzieht, wird langweilig.
  • Der Druck darf niemals nachlassen.
  • Die Drohung hat in der Regel mehr abschreckende Wirkung als die Sache selbst.
  • Die wichtigste Voraussetzung für jede Taktik ist das Entwickeln einer Stra­tegie, die permanenten Druck auf den Gegner ausübt.
  • Wenn man etwas Negatives lange und hart genug behandelt, zeigt sich das Positive von ganz allein.
  • Suche dir eine Zielscheibe, personalisiere sie und schieße dich auf sie ein.
  • Die eigentliche Aktion besteht in der Reaktion des Gegners.
  • Ein sorgfältig gereizter und angestachelter Gegner wird durch seine Reaktion zu deiner größten Stärke.
  • Taktik, ebenso wie Organisation – ja wie das Leben selbst – erfordert, dass man sich mit der Aktion mitbewegt.«
Seite 3: CO in Deutschland?

CO in Deutschland?

Zur ergiebigsten, deutschen Quelle haben sich die Rundbriefe und Publikationen des FOCO e.V. (Forum Community Organizing) entwickelt, die großenteils auch im Internet (http://www.fo-co.info) bereitstehen. Kernstücke aus dem CO (Beziehungsarbeit, Förderung von Führungspersonen, Machtanalyse und strategisches Vorgehen, Entwicklung von Taktiken mit Durchführung und Auswertung von Aktionen) werden mit Gewinn angewendet: in der Lehre und Praxis aktivierender Sozial- und Gemeinwesenarbeit, in Mieterinitiativen, unabhängigen Bürgerorganisationen und Stadtteilentwicklungen, in lokalen Agenden 21, auch in der Selbstorganisation von Transferfirmen.


Wo aber ist das deutsche Referenzprojekt, die hauptberuflich professionell begleitete Organisation auf breiter Basis? Daran wird gearbeitet. Noch nicht gelungen scheint die Finanzierung der Aufbau-Organisatoren. Und wenn das einmal gelungen ist, wird die Startphase, die Vielzahl an Beziehungsgesprächen, ohne große öffentliche Ankündigung ablaufen.

Natürlich gibt es Übertragungsprobleme. Ich will nur zwei andeuten:

  • Der US-Mentalität entspricht es, sich ohne öffentlichen Auftrag im eigenen Interesse um Organisation und Geld zu kümmern. In Deutschland wird zunächst darauf verwiesen, dass die Finanzierung professioneller Unterstützung in der Zivilgesellschaft eigentlich öffentliche Aufgabe ist.
  • Manche wörtlichen Übersetzungen von Schlüsselbegriffen des CO sind kaum verwendbar (leader – Führer) oder erzeugen Unbehagen (power – Macht).

Ed Chambers, als Direktor der IAF (Industrial Area Foundation) Alinskys Nachfolger, hat mir am Ende eines 10-Tage-Organizer-Trainings in Chicago gesagt: »Haltet euch nicht mit Übersetzungsproblemen auf, die Abläufe selbst funktionieren auch ohne die Worte. Versucht nicht, den Deutschen erst klar zu machen, dass es in den USA eine politisch erfolgreiche Methode gibt, um sie dann davon zu überzeugen, dass sie das nachmachen müssen. Behauptet einfach, dass ihr all das selbst erfunden habt, aber beginnt zu organisieren.« Das nennt man, glaube ich, eine paradoxe Intervention. Let’s organize!

Literaturtipp

Alinsky, Saul D.: Rules for Radicals – A Pragmatic Primer für Realistic Radicals. 1971.

Alinsky, Saul D.: Anleitung zum Mächtigsein. 2000 (Neuauflage).

Forum für Community Organizing e.V. (FOCO)/Stiftung Mitarbeit (Hrsg.) in Kooperation mit DICO: Handbuch Community Organizing. Theorie und Praxis in Deutschland. Bonn 2015 (2. Auflage), 248 S., 12,00 Euro, ISBN 978-3-941143-15-9, Online-Bestellung

Autor

Dr. Walter Häcker
Berater für Organisationen und Unternehmen
Mühlstr.8
73650 Winterbach
E-Mail: dr.walter.haecker@web.de