Praxisbeispiel Dragon Dreaming im Wohnprojekt Wien

Hintergrund und Beweggründe

Gemeinschaftliches Wohnen ist schon von seinem Anspruch her Beteiligung pur. Dabei stellt sich aber die alltagspraktische Frage, wie dieser Anspruch in den Strukturen und Prozessen des gemeinsamen Planens und Umsetzens eingelöst werden kann.

Das Wohnprojekt Wien hat sich als Wohnbaugruppe 2009 gegründet und umfasste in der Pionierphase etwa 15 aktive Personen. Darunter eine Architektin und ein Architekt, die nach einigen Überredungskünsten die Aufgabe übernahmen, dieses Haus zu planen. Das Ziel der Gruppe war, in einem Haus im innerstädtischen Bereich Wiens gemeinschaftliches Wohnen zu verwirklichen.

Nach nur wenigen Treffen der Gründer/innengruppe ergab sich die Möglichkeit, das Projekt bei einem Bauträgerwettbewerb der Stadt Wien für ein Baulos im Stadterneuerungsgebiet des ehemaligen Nordbahnhofs im zweiten Wiener Gemeindebezirk einzureichen. Das eröffnete gleichzeitig auch die Chance, ein Grundstück in bester innerstädtischer Lage mit Wohnbauförderung gemeinschaftlich von Grund auf neu zu planen und bebauen zu können.

Die Chance war eine sehr kleine. Noch nie zuvor hatte sich eine Baugruppe in Wien in einem öffentlichen Bieterverfahren durchgesetzt. Die kurze Dauer der Ausschreibung von etwa zwei Monaten, das sehr geringe Wissen über Baugruppen im professionellen Bereich, vor allem auch bei den finanzierenden Bauträgern und daraus folgende Berührungsängste hin zu Baugruppen und die hohe Komplexität einer solchen Einreichung waren bisher zu hohe Hürden. Den Gründer/innen war klar, dass sie eine außergewöhnliche Aufgabe vor sich hatten und folgten der Empfehlung, diese Herausforderung mit Dragon Dreaming anzugehen.

Warum war »Dragon Dreaming« das Mittel der Wahl zur Entwicklung des bereits partizipativ aufgesetzten Projekts?

Die Entscheidung für Dragon Dreaming erfolgte aufgrund mehrerer Überlegungen. Die Wichtigste: es war notwendig, eine noch nie geschaffte Herausforderung in einer außergewöhnlich kurzen Zeit zu stemmen. Daher brauchte es einen starken Zusammenhalt der Gruppe, eine mitreißende Vision, klare Ziele und Aufgabenverteilungen und ein hohes Commitment aller Beteiligten.

Alle diese Punkte sind in einer Wohnbaugruppe, die sich außerdem erst sehr kurz kannte, nicht selbstverständlich. Dragon Dreaming wurde dafür gepriesen, dass es 100 Prozent der Träume aller Beteiligten erfüllen soll und eine Gruppe durch die größten Herausforderungen führen kann. Genau das Richtige also für so ein Projekt.

Ein Wochenende als Basis für die Verwirklichung eines Traums

An einem schönen Seminarort im Süden Wiens startete die ungewöhnliche Erfolgsgeschichte begleitet von zwei Moderator/innen. Zweieinhalb Tage, davon ein Tag träumen und der Rest planen, umsetzen und feiern, waren anberaumt.

Nach etwa einem Tag stand eine starke Vision, entwickelt über den Traumkreis, einer Kernmethode von Dragon Dreaming. Bis heute, etwa sieben Jahre danach, ist der Kern dieser Vision weiterhin lebendig und hat uns durch den gesamten Prozess des Bauens und die ersten Jahre des Wohnens getragen.

Im Dragon Dreaming Prozess werden die Ziele aus der Vision heraus erarbeitet. Dafür wird folgende generative Frage gestellt: Was müssen wir in den nächsten Monaten tun, um 100 Prozent unseres Traums/unserer Vision zu erfüllen? In einem höchst effektiven Fokussierungsprozess werden innerhalb weniger Stunden die Ziele und Aufgaben ermittelt und danach die Aufgaben an Verantwortliche verteilt.

Ein sehr wirksames Mittel ist die Aufteilung der Aufgaben auf Leitung, Umsetzer/innen und Mentor/innen. Aufgaben können für manche ein Drachen sein, das bedeutet, dass die Aufgabe für die Person eigentlich überfordernd ist, aber wer gerne über sich selbst hinauswachsen will, übernimmt sie trotzdem. Mentor/innen kennen die Aufgabe sehr gut, haben aber keine Freude mehr sie selbst zu machen oder sehen kein persönliches Wachstum mehr darin. Sie stehen den Drachentänzern zur Seite, die dadurch schneller in die Aufgabe hineinwachsen können.

Die teilnehmenden Gründer/innen kamen nach dem Wochenende aus dem Dragon Dreaming-Prozess zurück, hochmotiviert, ihre Aufgaben umzusetzen. Doch niemand konnte sagen, ob das reichen würde, um die bevorstehende Mammutaufgabe zu stemmen: In zwei Monaten ein Haus im Wert von etwa 10 Mio. Euro inklusive Gemeinschaftsräumen zu planen, die gesamten sozialen und ökologischen Konzepte zu entwickeln, einen Bauträger und damit die Finanzierung zu finden und die Wettbewerbsjury von diesem schrägen Projekt zu überzeugen.

Die Folgen von Dragon Dreaming

Markus Zilker, einer der beiden Architekt/innen des Hauses beschrieb die Zeit danach als einen Flow, den er zuvor noch nicht erlebt hatte. Die Gründer/innen arbeiteten Tag und Nacht an dem Projekt. Sie waren ausgerichtet auf den gemeinsam entwickelten Traum und haben buchstäblich zwei Monate nicht geschlafen. Es war eigentlich unmöglich und doch haben sie außerhalb ihrer Erwerbsarbeit geschafft, wofür professionelle Mitbewerber ihre gesamte Erwerbsarbeitszeit widmen konnten. Nach Einreichungsschluss hätten sie zuallererst geschlafen, meinte Markus Zilker. Am Tag der Entscheidung wurde ihre Arbeit belohnt – das Projekt gewann den Wettbewerb.

Danach wurde das Gründer/innen-Team auf 40 Erwachsene erweitert, der weitere partizipative Prozess wurde mit Soziokratie gestaltet und das Haus ist jetzt Heimat für mehr als 100 Personen, etwa 40 davon Kinder. Der Traum ist Realität und das Projekt hat die höchsten Preise für Nachhaltigkeit und Architektur gewonnen, die in Österreich zu gewinnen sind. Unter anderem den Staatspreis für Architektur und Nachhaltigkeit und den Umweltpreis der Stadt Wien. Gerade eben (Anfang 2017) haben wir ein wohnprojektinternes Audit durchgeführt, das höchste Zufriedenheit mit dem Wohnen und dem Weg zum Erreichen der Vision ergab. Seit der Umsetzung des Wohnprojekt Wiens wurden etwa fünf weitere Wohnprojekte nach unserem Vorbild verwirklicht und etwa 15 neue sind in Planung oder Bau.