Anwendung

Anwendungsfelder

Das Verfahren der Bürgerkonferenz empfiehlt sich für (potenziell) kontroverse und regulierungsrelevante Fragestellungen. Schließlich geht es im Kern darum, den Expertenmeinungen eine fundierte Laienexpertise entgegenzusetzen. Obwohl auch lokale Bürgerkonferenzen gute Erfolge aufwiesen, beziehen sich Bürgerkonferenzen darum meist auf gesellschaftsweit und nicht nur lokal relevante Themen. Dies illustriert auch die Geschichte: Erstmals 1987 eingesetzt, wurden Bürgerkonferenzen in der Folge für Regulierungsfragen im Bereich Biotechnologie, Straßenverkehr, Informationstechnologie und integrierter Landwirtschaft angewendet (Andersen & Jæger 1999). Diese Dominanz von Technik- und Umweltthemen verstärkte sich in den letzten Jahren noch. Hinzu kamen biomedizinische Themen (Stammzellforschung, Gendiagnostik), Klimawandel und Biodiversität, Energiefragen, Nanotechnologie und – immer noch aktuell – grüne Gentechnik.

Karriere des Verfahrens

Das ursprünglich dänische Modell der Bürgerkonferenz wurde vielfach kopiert, modifiziert und in die ganze Welt exportiert. In vielen Ländern Europas, aber auch in den USA, in Japan, Indien oder Südkorea wurden solche Partizipationsexperimente durchgeführt. Eine erste Bürgerkonferenz auf europäischer Ebene fand 2006 statt. Diese bestand aus einer Reihe nationaler und europäischer Treffen, bei denen jeweils 14 Bürgerinnen und Bürger aus 9 EU-Ländern soziale und ethische Implikationen der modernen Neurowissenschaften debattierten (Bossaguet 2009). Im Vorfeld der Wahlen zum Europäischen Parlament gab es 2009 eine Reihe von Bürgerkonferenzen in mehreren EU-Ländern, die sich verschiedenen EU-relevanten Themen widmeten. Im Herbst 2009 wurde sogar ein globales Partizipationsverfahren durchgeführt: Im Vorfeld des UN-Gipfels zum Klimawandel, der im Dezember 2009 in Kopenhagen stattfand, diskutierten in weltweit 44 Bürgerkonferenzen insgesamt rund 4400 Laien aus 38 Ländern zu Klimawandel und Klimapolitik. Die Ergebnisse wurden mittels eigener Veranstaltungen im Rahmen der Weltklimakonferenz in die Debatte eingespeist (www.wwviews.org). Im Herbst 2012 gab es eine Folgeveranstaltung zum Thema Biodiversität, ebenfalls vom Dänischen Technologierat organisiert.

In Österreich wurde 1997 ein Versuch unternommen, das Modell der Bürgerkonferenz einzuführen (zum Thema bodennahes Ozon). Dabei handelte es sich jedoch – mit Blick auf Finanzierung und die Zusammensetzung des Laienpanels – um ein eng begrenztes Projekt (König 1997). Die erste Bürgerkonferenz auf nationaler Ebene fand 2003 unter dem Titel »Genetische Daten: woher, wohin, wozu?« in Wien statt. Diese Bürgerkonferenz wurde von einer PR-Agentur als Teil einer Public-Awareness-Kampagne des Rats für Forschung und Technologieentwicklung zum Thema Innovation geplant und durchgeführt (Seifert 2006). In der Folge fanden weitere Bürgerkonferenzen statt, u.a. zum Thema Energieversorgung (im Jahr 2009) oder zur Elektromobilität (2010 in Tirol).

Stärken und Grenzen der Methode

Die wichtigste Stärken der Bürgerkoferenz sind:

  • Unabhängige Meinungsbildung: Die am häufigsten genannte Stärke der Methode liegt in der angestrebten Kombination von Sachinformation und Unabhängigkeit oder Gemeinwohlorientierung derjenigen, die einen Sachverhalt beurteilen, nämlich gut informierter Laien. Das bedingt einerseits eine informierte Meinungsbildung (im Gegensatz zu Fokusgruppen, bei denen sich die Teilnehmer/innen vorher kaum mit dem Thema auseinander gesetzt haben), andererseits kommen Gruppen- oder Partialinteressen, wie sie Expert/innen oft nachgesagt werden, (zumindest theoretisch) nicht zum Tragen.
  • Beitrag zur öffentlichen Debatte: Ein weiterer Vorteil liegt im prinzipiell transparenten, nachvollziehbaren und dabei medienwirksamen Verfahren. Auf der öffentlichen Konferenz im Zuge des Verfahrens kommt es nicht selten zu einem »Kreuzverhör« der Experten, wobei deren Expertise intensiv auf die Probe gestellt und kontrovers diskutiert wird. Die Bürgerkonferenz kann so Impulse für eine breitere öffentliche Debatte liefern, ohne einem bestimmten Standpunkt von vorne herein Priorität einzuräumen.
  • Rationalitätsgewinne: Diese ergeben sich (zumindest theoretisch) dadurch, dass den Bürgerinnen und Bürgern im betreffenden Sachverhalt eine Stimme gegeben und damit ein Gegengewicht gegen den bereits erwähnten Experten-Lobbyismus aufgebaut wird. Das kann auch dazu führen, dass wichtige neue oder bisher vernachlässigte Aspekte in die Debatte eingebracht werden.

Grenzen der Methode

Zu den Grenzen der Methode gibt es nur wenige systematische Analysen, die unter anderem auf folgende Probleme hinweisen (z.B. Bogner 2010, Bora 2004, Görsdorf 2012):

  • Exklusion: Im Laufe des Verfahrens etablieren sich oft unausgesprochene Diskussionsregeln, die gewisse Ansprüche an die Teilnehmer/innen stellen. Dies kann zum Ausschluss oder zur Marginalisierung von Teilnehmenden führen, die mit diesen Regeln nicht konform gehen wollen oder können.
  • Mainstreaming: Der Deliberationsprozess resultiert zuweilen in einem Mainstrea­ming des Bürgerdiskurses. Das heißt, die Teilnehmer/innen werden im Laufe ihrer Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Thema immer mehr in den Expertendiskurs hineingezogen, so dass das Bürgervotum am Ende einer konventionellen Experten-Stellungnahme recht ähnlich wird.
  • Unklare Funktion: Die Funktion des Laienvotums im politischen Entscheidungsprozess ist unklar, das Votum hat im besten Fall Appellcharakter. Daraus ergeben sich eine Reihe von Problemen:
    • 1. Teilnehmer/innen gehen meist davon aus, dass die Politik ihr Votum ernst nimmt. Eine unklare Funktion kann ihre Motivation schwächen.
    • 2. Veranstalter/innen und Sponsoren sehen das Verfahren oft als reine PR-Maßnahme, um ein Thema in der Öffentlichkeit bekannt zu machen oder Akzeptanz zu generieren. Das eigentliche Ergebnis ist vielfach uninteressant.
    • 3. Bürgerkonferenzen verdanken sich meist nicht einem genuinen Partizipationsbedürfnis von Bürger/innen, sondern der Experimentierfreude von Partizipationsprofis. Die Bürgerkonferenz wird zu einem Projekt, das mangels realer Kontroversen im luftleeren Raum stattfindet (Bogner 2010). Projektverantwortliche sind daher versucht nachzuweisen, dass Beteiligungsexperimente in der Realität funktionieren.
Tipp

Es besteht die Gefahr, dass Partizipation zum Selbstzweck wird.