Methodenbeschreibung

Seite 1: Methode

21st Century Town Meeting® ist eine Form der Bürgerversammlung, bei der tausende Menschen sich gleichzeitig zur Beratung komplexer politischer Fragen versammeln, um gemeinsam Empfehlungen für die Politik zu erarbeiten. Die moderierten Face-to-Face-Diskussionen in Kleingruppen werden durch ein Redaktionsteam unterstützt, das mittels eines vernetzten Computersystems kontinuierlich den Diskussionsverlauf auswertet und Abstimmungen durchführt.

21st Century Town Meeting® wurde ab 1995 von der unabhängigen, in Washington D.C. ansässigen Non-Profit-Organisation »America Speaks« entwickelt. Die Organisation bestand bis 2014.

Die Motivation der Gründerin Carolyn Lukensmeyer war es, Bürger/innen mehr Mitsprache bei wichtigen Entscheidungen zu ermöglichen, von denen sie betroffen sind. Weltweit nahmen etwa 160.000 Menschen an solchen Meetings teil. Die behandelten Themen sind oft konkrete und komplexe Richtungsentscheidungen von übergeordnetem Interesse – etwa Wiederaufbaupläne nach Katastrophen, die Zukunft der Sozialversicherung oder Maßnahmen zur Budgetsanierung. Initiiert und organisiert werden 21st Century Town Meetings® in der Regel von öffentlichen Stellen, aber auch von privaten Stiftungen, NGOs und internationalen Organisationen.

Die Ergebnisse der 21st Century Town Meetings® haben in der Regel Empfehlungscharakter und sind als konsultatives Verfahren einzustufen. Durch die enge Einbindung von Entscheidungsträger/innen, die große Anzahl an Beteiligten und oft hohe Medienpräsenz, gewinnen sie jedoch an politischem Gewicht.

Eine Besonderheit der Methode liegt in der Repräsentativität der Teilnehmenden, der hohen öffentlichen und medialen Aufmerksamkeit sowie in der gelungenen Verbindung der Gesprächsqualität gut moderierter Kleingruppendiskussionen, mit der Möglichkeit auch als (sehr) große Gruppe eine klare Entscheidung zu treffen.

Seite 2: Ablauf

Ablauf

Ort und Dauer

21st Century Town Meetings® werden meist in Veranstaltungshallen mit bis zu 300 Tischen in einem Raum abgehalten und dauern in der Regel einen ganzen Tag. Häufig finden mehrere Versammlungen gleichzeitig an verschiedenen Orten statt und werden über Video und Großbildschirme verbunden.

Sitzarrangement und Infrastruktur

In der Halle selbst sitzen in der Regel zehn Teilnehmer/innen an einem Tisch. Jeder Tisch wird von einem Moderator oder einer Moderatorin begleitet. Die Tischzuteilung erfolgt nach dem Zufallsprinzip, um eine größtmögliche Durchmischung sicher zu stellen. Während der Veranstaltung ist kein Tischwechsel vorgesehen.

Jede/r Teilnehmer/in verfügt über eine elektronische Tastatur für Abstimmungen und die Ergebnisse werden in Echtzeit auf großen Leinwänden dargestellt.

Genauer Zeitplan

Aufgrund der Gruppengröße ist der Ablauf sehr genau getaktet und wird tunlichst eingehalten. Der Tagesablauf besteht – je nach Thema und verfügbarer Zeit – aus abwechselnden Inputs, Kleingruppendiskussionen und gemeinsamen Abstimmungen.

Der Start

Zu Beginn werden die Teilnehmer/innen dazu eingeladen, sich über die Beweggründe ihrer Teilnahme auszutauschen. Zudem wird transparent gemacht, ob die Zusammensetzung der Tischrunden tatsächlich die Bevölkerung widerspiegelt. Stellt sich heraus, dass an einem Tisch eine Gruppe unterrepräsentiert ist, wird darum gebeten, darauf zu achten, dass die vorhandenen Mitglieder dieser Gruppe sich gut einbringen können.

Moderierte Kleingruppendiskussion

Die Moderator/innen der Kleingruppen sorgen dafür, dass alle Teilnehmer/innen zu Wort kommen und niemand die Diskussion dominiert.

Ausgewogene Informationsgrundlagen

Als Grundlage für die Kleingruppendiskussionen dienen Gesprächsleitfäden, die Basis­informationen und mögliche Handlungsalternativen zum jeweiligen Thema darstellen. Diese werden bereits Wochen zuvor mit allen betroffenen Stakeholdern so lange abgestimmt, bis diese befinden, dass das Thema fair und unparteiisch dargestellt wird.

Zusammenführung der Rückmeldungen aus den Kleingruppendiskussionen

Die wesentlichen, abgestimmten Aussagen der Gruppendiskussionen werden durch die Moderator/innen an ein sogenanntes Themen-Team übermittelt. Die Übermittlung erfolgt entweder über einfache Post-its oder elektronisch über ein WLAN verbundenes Laptop oder iPad.

Die Aufgabe des Themen-Teams ist es dann, die Rückmeldungen zu Themen zu ordnen, Gemeinsamkeiten zu identifizieren und diese zusammenzufassen. Die Gruppe muss darauf vertrauen, dass die Mitglieder des Themen-Tisches diese »Ordnungsleistung« unabhängig und sorgsam erbringen. In der Praxis haben sich für diese Aufgabe Journalistinnen und Journalisten als vertrauenswürdig und gewissenhaft erwiesen. Sie sind geübt, aus einer Vielzahl von Informationen gemeinsame Themen zu identifizieren und diese ausgewogen zusammenzufassen.

Identifikation gemeinsamer Anliegen mit Hilfe elektronischer Abstimmungssysteme

Das Themen-Team ordnet die Ergebnisse der Kleingruppendiskussionen und fasst sie zusammen. Die häufigsten Aussagen werden über die Großleinwände an die Teilnehmer/innen weitergegeben. Mit Hilfe der Abstimmungstastatur stimmt jede Teilnehmerin/jeder Teilnehmer ab, die Zustimmung der Gesamtgruppe zu den einzelnen Aussagen kann so ermittelt werden. Zur Abstimmung gelangen sowohl vorbereitete Optionen, wie auch neue Punkte, welche sich durch die Diskussion in den Kleingruppen ergeben haben.

Dokumentation

Während des gesamten Tages ist eine Person damit beschäftigt, die Ergebnisse zu »ernten« und in einem prägnanten, vorläufigen Bericht zusammenzufassen. Dieser wird am Ende der Veranstaltung an alle Teilnehmer/innen verteilt. Er umfasst die Kernthemen, alle Abstimmungsergebnisse und Informationen über die nächsten Schritte. Zusätzlich werden ausführliche Dokumentationen für die Öffentlichkeit erstellt. Vielfach haben auch anerkannte Universitäten den Prozess begleitend evaluiert.

Seite 3: Umsetzung

Wichtige Aspekte bei der Umsetzung

Auf folgende Prinzipien wird besonders Wert gelegt:

  • Gute Anbindung an Entscheidungsträger/innen
  • Demographische Diversität
  • Beteiligung auf der Basis von guten Informationsgrundlagen
  • Moderierte Deliberation
  • Fokussierung auf das Aufspüren gemeinsam getragener Prioritäten
  • Formulierung konkreter Handlungsempfehlungen.

Viele dieser Erfahrungen und Haltungen lassen sich auch in anderen Prozessdesigns nutzen.

Notwendiger organisatorischer Rahmen

Die Organisation eines Events mit über 1.000 Teilnehmer/innen stellt eine logistische Herausforderung dar. Typischerweise geht es hierbei um fünf Hauptaufgaben:

  • Gesamtsteuerung
  • Rekrutierung, Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit
  • Design und inhaltliche Entwicklung
  • Logistik und Event Management
  • Rekrutierung von Moderator/innen und Freiwilligen

Jede dieser Aufgaben umfasst eine Vielzahl von Detailschritten, die in vielfachen Anwendungen erprobt wurden. In der praktischen Umsetzung kann bereits auf zahlreiche Anleitungen, Checklisten, Zeitpläne und Erfahrungswerte zurückgegriffen werden. Die folgenden zwei Herausforderungen sind in jedem Projekt dieser Art zentral:

Herausforderung 1: Ausreichend viele und repräsentative Teilnehmer/innen
Der Aufwand zur Einladung einer großen und diversen Anzahl von Teilnehmer/innen, der von den Organisator/innen betrieben wird, ist bemerkenswert. Dabei wird sehr stark über Multiplikator/innen, persönliche Einladungen und Medienpartnerschaften gearbeitet. Um auch schwer erreichbare Gruppen für die Teilnahme zu gewinnen, werden zahlreiche Aktivitäten gesetzt. Das Spektrum reicht von Übersetzungen, Transport, Kinderbetreuung, persönlicher Ansprache bekannter Persönlichkeiten der jeweiligen Gemeinde bis hin zu vertrauensbildender Beziehungsarbeit, um z.B. auch illegalen Einwanderer/innen – durch Zusicherung absoluter Anonymität – die Teilnahme zu ermöglichen.

Herausforderung 2: Unabhängigkeit der Trägerschaft
Größtmögliche Unabhängigkeit und Ausgewogenheit sind unerlässlich, um die Glaubwürdigkeit der Ergebnisse sicher zu stellen. Derart große Versammlungen erreichen hohe Publizität und bieten somit einen Anreiz, als Bühne für singuläre Anliegen oder politische Profilierung missbraucht zu werden. Darüber hinaus bedingt die Größe und die Ergebnisorientierung auch eine Vorbereitung von Informationen für die Beteiligten. Auch hier ist die Ausgewogenheit unerlässlich für die Legitimation. Letztlich bedingt der Anspruch, gemeinsame und konkrete Empfehlungen zu formulieren auch die Notwendigkeit, die Ergebnisse der Gruppendiskussionen zu verdichten und zusammenzuführen. Indem diese Ordnungsleistung durch unabhängige Personen erfolgt, wird sichergestellt, dass sich alle Teilnehmer/innen darin wiederfinden.

Es bedarf daher einer politisch neutralen oder ausgewogen zusammengestellten institutionellen Trägerschaft und integerer Persönlichkeiten als Promotor/innen.

Seite 4: Anwendungsfelder

Anwendungsfelder

Die Methodik eignet sich insbesondere für Fragestellungen von breitem (oft nationalem) Interesse, an denen viele Menschen beteiligt werden sollen, sowie für schwierige, grundlegende Richtungsentscheidungen wie beispielsweise

  • Langzeit-Planungen für Regionen und Städte
  • Wiederaufbaumaßnahmen nach Katastrophen
  • Festlegen von Budget-Prioritäten
  • Richtungsentscheidungen zur Zukunft von Gesundheits- und Sozialsystemen
  • Jugend und Gesundheit
  • Fachthemen (von Gehirnforschung bis Klimawandel)

Stärken der Methode

Das 21st Century Town Meeting® ...

  • nutzt die deliberativen Qualitäten persönlicher und wertschätzender Kleingruppendiskussionen
  • verbindet diese mit der Möglichkeit einer raschen Entscheidungsfindung auch unter mehreren Tausend Teilnehmer/innen an verschiedenen Orten
  • ermöglicht durch die hohe Anzahl der Teilnehmer/innen und eine sehr engagierte Bewerbung die Chance auf tatsächliche (statistische) Repräsentativität
  • ermöglicht für eine große Gruppe die unmittelbare Erfahrung der gemeinsamen Betroffenheit, der Vielfalt an legitimen Meinungen, des Bemühens um Gemeinsamkeiten und die Fähigkeit zur Verständigung
  • führt damit zu einer, durch die Forschung gut dokumentierten, Steigerung der politischen Teilhabe der Teilnehmer/innen über die Veranstaltung hinaus
  • erzielt hohe Publizität und Sichtbarkeit und damit politisches Gewicht
  • erlaubt auch zu sehr kontroversen Themen, unter Zeitdruck und in »aufgeheizten Stimmungen« eine konstruktive Auseinandersetzung (z. B. nach den Anschlägen von 9/11 oder Hurrikan Katrina)
  • ermöglicht gemeinsames Arbeiten an unterschiedlichen Orten
  • erreicht einen hohen Anspruch an Professionalität und Sicherheit durch vielfache Anwendung
  • vertraut (aus Erfahrung gewachsen) zutiefst in die Lösungsfindungskapazitäten der Bevölkerung auch bei komplexen Themen und schwierigen Entscheidungen.

Grenzen der Methode

  • Erforderlich ist eine aufwendige Organisation (Vorlaufzeiten, Kosten, personeller Einsatz).
  • Die hohe Teilnehmer/innenzahl bedingt vergleichsweise viel Vorarbeit im Hinblick auf Struktur und behandelte Themen. Dadurch sind die Möglichkeiten für Themenwechsel durch die Teilnehmer/innen eingeschränkt. Das Verfahren hat weitgehend deliberativen Konsultationscharakter zu vorgeschlagenen Handlungsoptionen.
  • Es bedarf einer großen Integrität und Professionalität der Trägerschaft, um als neutral und unabhängig wahrgenommen zu werden.
  • Wird die Methode nicht regelmäßig durchgeführt und in gewissem Umfang institutionalisiert, ist der Aufwand hoch für den Aufbau von Know-How und die Suche nach geeigneten Räumen und Moderator/innen. »America Speaks«/»Global Voices« sind als gemeinnützige NGOs daran interessiert, die Institutionalisierung zu fördern. Regierungen sollen ohne große Unterstützung selbst solche Prozesse durchführen können (wie z. B. bereits in Washington D.C.).

America Speaks existiert nicht mehr als Organisation. Die verwendete Technik lässt sich inzwischen wesentlich kostengünstiger über Handy Apps abbilden. Im Hinblick auf das Prozess­design, die Rekrutierung schwer erreichbarer Gruppen, die raschen Verdichtung offener Fragen und die gemeinsame Willensbildung setzt die Methode jedoch bis heute Maßstäbe. Die Nutzung dieser Erfahrung in Kombination mit anderen bewährten Formen für Großgruppen erschließt neue Möglichkeiten.