Exkurs: Heiratsmigrantinnen

Seite 1: Lebenssituation

Im Lauf unserer Studie über erfolgreiche Arbeit mit Migrantenfamilien in diversen Projekten in Neukölln stießen wir in erster Linie auf Nutzerinnen, denen eines gemeinsam ist: Sie haben ihre Kindheit und Jugend in einem anderen Land verbracht und sind erst vor Kurzem aufgrund einer Heirat nach Deutschland gekommen. Allem Anschein nach sind es also nicht so sehr Migrantinnen der zweiten oder dritten Generation, die die untersuchten Angebote nutzen, vielmehr scheinen Heiratsmigrantinnen diese Unterstützung besonders hilfreich zu finden.

Das fanden wir so bemerkenswert, dass wir in einem Exkurs darüber reflektieren wollen, womit diese Projekte den Bedürfnissen der Heiratsmigrantinnen entgegen kommen. Das scheint uns nicht zuletzt deshalb interessant, weil Heiratsmigration oft als Integrationshindernis gilt, da man negative Auswirkungen auf die Sozialisationsbedingungen der Kinder fürchtet, wenn ein Elternteil im Ausland aufgewachsen ist und von dort in aller Regel keine oder nur geringe Deutschkenntnisse mitbringt. Gleichzeitig ist bekannt, dass viele Migranten und Migrantinnen der zweiten und dritten Generation Partner heiraten, die im Ausland aufgewachsen sind. Auch wenn es keine genauen Zahlen gibt, lässt sich doch vermuten, dass in vielen Stadtteilen ein Drittel oder sogar die Hälfte der Kinder mit Migrationshintergrund in einer Familie aufwächst, bei der ein Elternteil erst nach der Heirat nach Deutschland kam (vgl. STRAßBURGER 2000). Es handelt sich also keineswegs um eine Ausnahme, und so scheint es uns angebracht, diesem Thema weiter nachzugehen.

Dazu arbeiten wir zunächst einmal typische Merkmale der Lebenssituation von Heiratsmigrantinnen heraus. Anschließend fragen wir, in welcher Hinsicht sie auf Unterstützung angewiesen sind, wo sie diese bekommen und / oder wo sie ihnen fehlt. An diese Überlegungen schließt sich eine Betrachtung verschiedener Projekte an, bei denen uns aufgefallen ist, dass sie besonders stark von Heiratsmigrantinnen besucht werden oder sogar wesentlich auf der aktiven Mitarbeit dieser Personengruppe basieren. Wir gehen der Frage nach, inwiefern die Arbeitsansätze dieser Projekte besonders gut auf die Lebenssituation dieser Personengruppe reagieren. Auf diese Weise wollen wir Faktoren herausarbeiten, die sich bei der Arbeit mit Heiratsmigrantinnen als hilfreich erweisen.

Was kennzeichnet die Lebenssituation von Heiratsmigrantinnen?

Wie geht es Heiratsmigrantinnen in Deutschland? Was hat sie bewogen,einen Mann zu heiraten, der hier lebt, und ihre Heimat zu verlassen? Wie zufrieden sind sie mit ihrer Entscheidung? Wie finden sie sich hier zurecht? Wie erziehen sie ihre Kinder?

Ein Blick in die Fachliteratur macht eines mehr als deutlich: Es mangelt bislang an fundierten Studien zu all diesen Fragen. Nur wenige Untersuchungen gehen auf das Phänomen der Heiratsmigration oder auf die Situation der Heiratsmigrantinnen ein und liefern Informationen zu den oben genannten Fragen. Wir werden versuchen, einige der vorliegenden Ergebnisse zusammenzufügen. Außerdem schildern wir, wie sich die Situation von Heiratsmigrantinnen darstellt, die wir im Lauf unserer Studie kennengelernt haben.

Dem spärlichen Kenntnisstand aus wissenschaftlicher Sicht steht eine Fülle von Klischees gegenüber, die nahezu unhinterfragt verbreitet werden. Sie betreffen vor allem Heiratsmigrantinnen aus muslimisch geprägten Gesellschaften. Nachdem das Thema lange Zeit nur in Fachkreisen diskutiert worden war, hat es mittlerweile ziemlich große Popularität erlangt. Nicht zuletzt wegen des Buches von Necla Kelek »Die fremde Braut« (2005).

Bei der Lektüre dieses Bestsellers gilt es zu beachten, dass sein Fokus – trotz des Titels – keineswegs auf Heiratsmigrantinnen gerichtet ist, sondern auf diverse Gewaltphänomene, die Kelek in der türkischen Bevölkerung beobachtet und kritisiert; insbesondere auf Zwangsehen. In diesem Kontext greift sie auch das Thema Heiratsmigration auf, da sie – berechtigterweise – davon ausgeht, dass sich Heiratsmigrantinnen wegen ihrer rechtlich und sozial relativ prekären Lebenslage besonders schlecht wehren können, falls sie von einer Zwangsverheiratung betroffen sind.

Nun sollte man aber nicht im Umkehrschluss alle Heiratsmigrantinnen als Opfer von Zwangsehen betrachten. Schon der Begriff »Importbräute«, den Kelek verwendet, könnte dazu verleiten, anzunehmen, bei Heiratsmigrantinnen würde es sich nicht um selbstbestimmt handelnde Personen handeln, sondern um hilflose Opfer patriarchaler Verhältnisse. Die Schilderung der Lebenssituation von Heiratsmigrantinnen, die Kelek präsentiert, enthält leider obendrein eine Fülle von Verallgemeinerungen, die wenig zum Verständnis beitragen.

»Die typische Importbraut ist meist gerade eben 18 Jahre alt, stammt aus einem Dorf und hat in vier oder sechs Jahren notdürftig lesen und schreiben gelernt. Sie wird von ihren Eltern mit einem ihr unbekannten, vielleicht verwandten Mann türkischer Herkunft aus Deutschland verheiratet. Sie kommt nach der Hochzeit in eine deutsche Stadt, in eine türkische Familie. Sie lebt ausschließlich in der Familie, hat keinen Kontakt zu Menschen außerhalb der türkischen Gemeinde. Sie kennt weder die Stadt noch das Land, in dem sie lebt. Sie spricht kein Deutsch, kennt ihre Rechte nicht, noch weiß sie, an wen sie sich in ihrer Bedrängnis wenden könnte. In den ersten Monaten ist sie total abhängig von der ihr fremden Familie, denn sie hat keine eigenen Aufenthaltsrechte. Sie wird tun müssen, was ihr Mann und ihre Schwiegermutter von ihr verlangen. Wenn sie nicht macht, was man ihr sagt, kann sie von ihrem Ehemann in die Türkei zurückgeschickt werden – das würde ihren sozialen oder realen Tod bedeuten. Sie wird bald ein, zwei, drei Kinder bekommen. Ohne das gilt sie nichts und könnte wieder verstoßen werden. Damit ist sie auf Jahre an das Haus gebunden. Da sie nichts von der deutschen Gesellschaft weiß und auch keine Gelegenheit hat, etwas zu erfahren, wenn es ihr niemand aus ihrer Familie gestattet, wird sie ihre Kinder so erziehen, wie sie es in der Türkei gesehen hat. Sie wird mit dem Kind türkisch sprechen, es so erziehen, wie sie erzogen wurde, nach islamischer Tradition. Sie wird in Deutschland leben, aber nie angekommen sein.

Kaum jemand spricht mit diesen Frauen, weil diese in der Öffentlichkeit meist auch gar nicht auftauchen. Sie sind in den Familien, in den Häusern versteckt, sie können sich nicht mit Deutschen verständigen, sie haben keinen Kontakt zu Menschen, die ihnen helfen könnten, zu Behörden, Sozialarbeitern oder Beratungsstellen. … Am ehesten trifft man diese Frauen in den Moscheen. … Mit den Deutschen wollen sie in der Regel gar nichts zu tun haben. Sie sprechen deren Sprache nicht, sie verstehen deren Kultur nicht, und die Lebensweise der Deutschen wird gerade von den überzeugt religiösen Musliminnen verachtet.« (KELEK 2005:171 ff.)

Seite 2: Diskurse, Fakten

Typische Diskurse

In dieser Beschreibung begegnen uns einige der typischen Opferdiskurse über die orientalische Frau, mit denen sich auch Christine Huth-Hilde-brandt in ihrem Buch »Das Bild von der Migrantin« (HUTH-HILDEBRANDT 2002) ausführlich befasst.

  • Da ist zum einen der Primitivitätsdiskurs: Die jungen Frauen werden beschrieben als naive Dorfmädchen, die einem archaischen Brauch folgend von ihren Eltern verheiratet werden. Dadurch werden sie in die Moderne katapultiert. Doch von der deutschen Großstadt bleiben sie ähnlich isoliert wie die Opfer einer Entführung von der Umgebung ihres Verstecks.
  • Wir sehen hier eine deutliche Bezugnahme zum Diskurs über die Parallelgesellschaft. Ihm zufolge verhindern eigenethnische Sozialkontakte, dass Migrantinnen sich zu vollwertigen Mitgliedern der hiesigen Gesellschaft entwickeln. Notgedrungen scheinen die Heiratsmigrantinnen in dem Stadium zu verharren, in dem sie sich bei ihrer Ankunft befanden.
  • Im Bild der Entführten, die dem eigenen Umfeld nicht entfliehen kann, ist auch der Patriarchatsdiskurs enthalten: die Heiratsmigrantin erscheint als »Sklavin« ihres Mannes und seiner Mutter. Gleichzeitig wird sie zum Schicksal ihrer Kinder, an die sie die Ausweglosigkeit ihrer eigenen, türkisch und muslimisch geprägten Biografie weitervererbt.
  • Schließlich kommt noch der Fundamentalismusdiskurs zum Tragen, wenn die Autorin die Ansicht äußert, dass viele Heiratsmigrantinnen unter dem Einfluss von Moscheegemeinden stehend mit Deutschen gar nichts zu tun haben wollen und deren Lebensweise verachten.

Würde die Schilderung von Kelek zutreffen, wäre sie also wirklich typisch für das Gros der Heiratsmigrantinnen, dürften in den von uns untersuchten Projekten eigentlich kaum Heiratsmigrantinnen auftauchen. Weder hätten sie selbst ein Interesse daran, noch würde man es ihnen erlauben. Da wir aber ganz im Gegenteil festgestellt haben, dass es oft gerade Heiratsmigrantinnen sind, die die familienunterstützenden Angebote nutzen, stellt sich die Frage, ob es auch Ausnahmen von dieser Schilderung gibt oder ob die Schilderung möglicherweise sowieso nur im Ausnahmefall zutrifft. Wenden wir uns also der Wissenschaft zu und werfen einen Blick in eine der wenigen Studien, die uns Anhaltspunkte liefern können.

Einige Fakten

Bei der Suche nach Untersuchungen, die uns mehr über die Situation von Heiratsmigrantinnen sagen könnten, stoßen wir auf eine interessante Erhebung, die in den deutschen Konsulaten und der Botschaft in der Türkei durchgeführt wurde. Warum dort? Ganz einfach: Alle Anträge auf Ehegattennachzug zu einem in Deutschland lebenden Partner laufen über die Auslandsvertretungen. Folglich ist dort der ideale Ansatzpunkt für die Forschung.

Die Untersuchung, von der hier die Rede ist, wurde im Jahr 2002 vom Zentrum für Türkeistudien durchgeführt (AYDIN u.a. 2003). Dabei wurden 1500 Frauen und Männer interviewt, als sie vor einer Auslandsvertretung warteten, um einen Antrag auf Ehegattennachzug einzureichen. Dies entspricht in etwa einem Zehntel aller Personen, die jährlich im Rahmen einer Heiratsmigration aus der Türkei nach Deutschland kommen.

Die 789 interviewten Frauen waren im Durchschnitt 22,7 Jahre alt, als sie heirateten (a. a. O. S. 51). Das Visum für den Ehegattennachzug beantragten sie meist im ersten Jahr nach der Heirat, so dass damit zu rechnen ist, dass das Gros der Heiratsmigrantinnen, die aus der Türkei nach Deutschland kommen, zwischen 20 und 25 Jahre alt ist.

Besonders interessant ist, wie die Frauen ihre Ehepartner gefunden haben. Arrangierte Ehen, bei denen die Partner einander zum Zweck einer möglichen Heirat vorgestellt werden, scheinen unter Heiratsmigrantinnen in spe längst nicht so weitverbreitet zu sein, wie meist vermutet wird. Sie liegen jedenfalls deutlich hinter Ehen, bei denen die Ehepartner selbst die Initiative ergriffen haben, nachdem sie sich im Urlaub oder im Bekanntenkreis kennengelernt haben. Eheschließungen mit »Verwandten« – zu denen auch weit entfernte oder angeheiratete Verwandte gezählt werden – machen rund ein Sechstel aller Ehen aus.

Nach ihrer Ankunft in Deutschland wird ein Fünftel der befragten Frauen (zunächst) zu den Schwiegereltern ziehen. In den meisten Fällen wird dies allerdings lediglich eine Übergangslösung darstellen (a.a.O. S. 52).

Besonders aufschlussreich ist die Studie von AYDIN u.a. hinsichtlich der Bildungssituation der Heiratsmigrantinnen. Demnach hat ca. ein Drittel (31,3 %) der Befragten lediglich die Pflichtschulzeit absolviert, die mittlerweile bei acht Jahren liegt. Dagegen hat ebenfalls ein Drittel (31,1 %) das Abitur gemacht. Lediglich 3,4 Prozent geben an, dass sie keine Schule besucht haben. (21) Die Übrigen haben anderweitige Schulabschlüsse erworben, für die es in Deutschland häufig keine passende Entsprechung gibt. Hervorzuheben ist schließlich noch, dass 11,9 Prozent der Befragten mit einem in der Türkei erworbenen Universitätsabschluss nach Deutschland kommen.

»Diese Ergebnisse sind wichtig für die Planung von Maßnahmen für Heiratsmigranten aus der Türkei. Der hohe Anteil von Personen, die in der Türkei die Hochschulreife erzielt haben, zeigt nicht nur, dass die Heiratsmigration auch für Personen mit höherem Schulabschluss in Betracht kommt, sondern dass für sie andere Bildungsvoraussetzungen bestehen, die bei der Sprachvermittlung als auch den Möglichkeiten beruflicher Qualifizierung berücksichtigt werden müssen bzw. genutzt werden sollten.« (AYDIN u.a. 2003:58)

Insgesamt betrachtet, widerspricht diese Studie sehr deutlich den Annahmen von Kelek, dass die typische Heiratsmigrantin »gerade eben 18 Jahre alt« ist, »von ihren Eltern verheiratet wurde« und »in vier oder sechs Jahren notdürftig lesen und schreiben gelernt« hat (2005:171).

Seite 3: Geschlechtsrolle, Heiratsmigrantinnen in Neukölln

Heiratsmigration und Geschlechtsrolle

Welche Folgen kann eine Heiratsmigration für die Partnerschaft mit sich bringen? Wie wirkt sie sich auf die Geschlechtsrollen aus? Diese Fragen wurden im Rahmen einer Studie über das Heiratsverhalten der zweiten Migrantengeneration angesprochen (STRAßBURGER 2003).Dabei wurde zunächst darauf hingewiesen, dass eine Heiratsmigration an sich in der weiblichen Biografie keineswegs außergewöhnlich ist. Viele Frauen ziehen nach der Heirat zu ihrem Mann und müssen sich in einer neuen Umgebung zurechtfinden. Erst die Tatsache, dass die Migration Staatsgrenzen überwindet, weil der Ehepartner in Deutschland lebt, macht sie zu etwas Besonderem.

Denn bei einer internationalen Heiratsmigration sind die Migrantinnen weit stärker auf ihren Ehepartner angewiesen (vgl. WOLBERT 1984). Solange sie nicht Deutsch können, sind sie in ihrer Kommunikation und damit auch in ihrer Mobilität eingeschränkt. Überdies fehlt ihnen bei (Ehe-)Problemen die Unterstützung durch ihre Herkunftsfamilie oder durch ein partnerunabhängiges soziales Netzwerk. Außerdem macht sich die rechtliche Abhängigkeit negativ bemerkbar, falls eine Heiratsmigrantin von ihrem Mann misshandelt wird oder aus anderen Gründen nicht mehr mit ihm zusammenleben möchte. Heiratsmigration kann deshalb unter Umständen in einem Abhängigkeitsverhältnis resultieren. Doch ist dies unserer Erfahrung nach die Ausnahme und nicht die Regel.

Es gibt mehrere Faktoren, welche die Eingliederung der frisch verheirateten Frauen in den neuen sozialen Kontext unterstützen und ihnen helfen, die typischen Probleme der Eingewöhnung und Einsamkeit zu überwinden. So leben Heiratsmigrantinnen meist zunächst mit ihrem Mann bei dessen Eltern und werden auf diese Weise in ihre neue Familie integriert. Viele können sich über ihre Schwägerinnen relativ schnell ein partnerunabhängiges Netzwerk aufbauen, welches sie in ihrer innerehelichen Position stärkt. Somit sind sie nicht in allen Sozialbezügen auf ihren Ehemann angewiesen, wenngleich der Großteil ihrer Beziehungen in Deutschland zunächst einmal über seine Familie zustande kommt.

So weit zum bisherigen Forschungsstand. Wie gesagt, er ist relativ dünn und wirft beinahe mehr Fragen auf, als er beantwortet. Hierzu gehört unter anderem die Frage nach der Mutterschaft, die die meisten Heiratsmigrantinnen als wesentlichen Bestandteil ihrer Geschlechtsrolle ansehen. Spätestens mit der Geburt des ersten Kindes wächst ihnen in Deutschland eine eigene, wichtige Aufgabe zu. Das kann bei der Migrationsbewältigung durchaus hilfreich sein, zumal den Heiratsmigrantinnen ansonsten wenig zentrale Lebensaufgaben zur Auswahl stehen. Ihre Aussichten, berufstätig zu werden, sind jedenfalls in aller Regel ziemlich gering.

Doch wie geht es den jungen Müttern in ihrem neuen Land? Welche Unterstützung suchen und welche finden sie in unserer Gesellschaft? Welche Bedeutung kommt den Begegnungen mit anderen jungen Müttern zu? Wie wichtig ist ihnen der Austausch mit anderen Heiratsmigrantinnen? Wir gehen diesen Fragen weiter nach, indem wir die Erkenntnisse zusammentragen, die wir im Lauf unserer Forschung in Neukölln gewonnen haben.

Heiratsmigrantinnen in Neukölln: Merkmale ihrer Lebenssituation

Wir wollen versuchen, ein möglichst klischeefreies Bild der besonderen Lebenssituation von Heiratsmigrantinnen zu skizzieren. Die Informationen stammen aus vielen Begegnungen mit Heiratsmigrantinnen in diversen Neuköllner Projekten, die familienunterstützende Angebote anbieten.

Demnach haben Frauen, die aufgrund einer Eheschließung nach Deutschland kommen, bei ihrer Ankunft nur selten eigene Bekannte. Ihr zentraler Bezugspunkt sind daher in der ersten Zeit ihre Ehemänner und deren Familien. Diese fühlen sich dafür verantwortlich, ihrem neuen Familienmitglied Orientierung und Unterstützung in dem für sie fremden Land zu bieten. Und zwar in allen Bereichen des Alltags, angefangen beim Einkauf oder bei Arztbesuchen bis hin zur Initiierung von sozialen Kontakten.

Die Heiratsmigrantinnen haben viele Anforderungen zu bewältigen: die deutsche Sprache zu lernen, Zugang zum öffentlichen Leben zu finden, das neue Eheleben gut zu gestalten, ein Kind zu erziehen und nicht zuletzt neue Kontakte zu knüpfen. Um diese Situation zu verdeutlichen, möchten wir Meral Üsküdar zu Wort kommen lassen, eine 24-jährige Frau, die gerne bereit war, uns in mehreren ausführlichen Gesprächen ihre Situation zu schildern. Frau Üsküdar hat ihren Mann vor drei Jahren in der Türkei kennengelernt. Obwohl ihre Familie gegen die Heirat war und immer wieder versucht hat, sie davon abzubringen, hat sie sich für ihren Mann und damit für das Leben in Deutschland entschieden.

Mittlerweile lebt sie seit zwei Jahren in Berlin. »Aber die Umstellung hatte ich mir wirklich einfacher vorgestellt.« Besonders die Sehnsucht nach ihrer Familie und ihrem Bekanntenkreis machen ihr das Leben in Deutschland schwer. Ohne deren Rückhalt fühlt sie sich sehr unsicher. Verstärkt wird dieses Gefühl durch die fehlenden Kenntnisse über die hiesige Gesellschaft, vor allem aber durch die noch nicht ausreichenden deutschen Sprachkenntnisse. Es nervt sie ziemlich, immer wieder auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein.

Auch ihr Ärger über die gängigen Fremdzuschreibungen kommt deutlich zum Ausdruck: »Ich weiß wohl, dass viele denken, wir wären nicht aus Liebe zu unserem Mann hierher gekommen, sondern wegen Deutschland. Wir sind für viele die ›Dummerchen‹, die hier außer Kochen und Putzen nichts zu tun haben.« Sie wehrt sich gegen das Stereotyp der abhängigen Heiratsmigrantin aus dem türkischen Dorf, die in Deutschland eingesperrt ist, sich nicht wehren kann, ihre Schwiegermutter bedienen muss et cetera: »Die haben doch gar keine Ahnung!«

Seite 4: Heiratsmigrantinnen in Neukölln

Auch kann sie überhaupt nicht verstehen, wie negativ hier über die Türkei geredet wird. Vor allem die türkischen Mitbürger der zweiten Generation würden sehr abwertend über ihr Heimatland sprechen: von den unzureichenden sozialen Dienstleistungen bis hin zu den katastrophalen Zuständen im Gesundheitssektor. Sogar erfolgreiche, akademische Abschlüsse würden hier als völlig wertlos angesehen, wenn sie in der Türkei erworben wurden.

Frau Üsküdar fühlt sich in solchen Situationen häufig als »Repräsentantin ihres Landes« angesprochen und dafür verantwortlich, die kritisierten Zustände zu rechtfertigen. Auf die Frage, ob sie auf derlei Kritik in der Türkei genauso reagieren würde, antwortet sie mit: »Vermutlich nein. Da würde ich vielleicht sogar selber vieles kritisieren. Aber das wäre dann Kritik von innen und nicht von außen. Das ist etwas völlig anderes.«

Wie dieses Beispiel zeigt, können Heiratsmigrantinnen – besonders in der Anfangsphase – nicht nur mit Einheimischen, sondern auch mit Landsleuten, die schon längere Zeit in Deutschland leben, in ziemlich schwierige Kommunikationssituationen kommen, die von zahlreichen Missverständnissen geprägt sind.

Dabei brauchen Heiratsmigrantinnen gerade in der Anfangsphase besondere Unterstützung: Vor allem suchen sie Möglichkeiten, neue Kontakte zu knüpfen. Denn anders als ihre in Deutschland aufgewachsenen Altersgenossinnen der zweiten Migrantengeneration sind sie nicht bereits durch Schule, Ausbildung, Familie und Nachbarschaft sozial integriert. Sie müssen sich erst neue Netzwerke aufbauen und sind froh, wenn sie – z.B. in sozialen Projekten – Anknüpfungsmöglichkeiten dafür finden.

Ein wichtiger Faktor, der die hohe Präsenz von Heiratsmigrantinnen in den von uns untersuchten Projekten erklärt, ist die dort gebotene Möglichkeit, sich auch Netzwerke aufzubauen, die nicht vom Ehepartner und dessen Familie ausgehen. In aller Regel haben die Heiratsmigrantinnen, die wir getroffen haben, zwar erstaunlich viele Kontakte, aber das Gros davon kam über die Familie zustande. Traditionellerweise führt eine Familie nach der Heirat ihr neues Mitglied in ihre sozialen Netzwerke ein, indem sie andere Familien besucht oder selbst Besuche empfängt. Die frisch gebackene Ehefrau lernt auf diese Weise meist innerhalb ziemlich kurzer Zeit viele Personen kennen.

Doch all die Kontakte, die so hergestellt werden, gelten nicht der Frau als Individuum, sondern als neuem Mitglied der Familie ihres Mannes. Mit der Position der neu hinzugekommenen Braut [türkisch: gelin] sind bestimmte Erwartungen verbunden. Sie agiert in diesem Beziehungsgeflecht nicht (nur) als Individuum, sondern immer (auch) als Repräsentantin eines Haushalts. Ihr Verhalten wirkt auf das Ansehen des Haushaltes zurück.

Diese Konstellation führt dazu, dass sich viele Heiratsmigrantinnen unter Druck gesetzt fühlen, ständig ein möglichst positives Bild von ihrer Person zu präsentieren. Das hindert sie bisweilen daran, ihre wahren Gefühle auszuleben. So könnte es beispielsweise als Kritik an der Familie ihres Mannes verstanden werden, wenn sie offen zeigen, wie sehr ihnen die Trennung von ihrer Familie und ihren Freunden zu schaffen macht. Letztlich gilt es bei den Kontakten, die über die Familie des Ehemannes hergestellt werden, also immer auch diplomatisches Geschick zu beweisen und sich seiner Position bewusst zu sein.

Hinzu kommt, dass all diese neuen Bekannten wesentlich stärkere und intensivere Beziehungen zu den übrigen Familienmitgliedern haben dürften als zu der neu eingeheirateten Ehefrau. Schließlich kennen sie sich bereits seit Jahren und haben einiges gemeinsam erlebt. Somit ruht ihre Beziehung auf einer stabilen Grundlage, die sich die Heiratsmigrantinnen als »Neuankömmlinge« erst aufbauen müssen.

An dieser Stelle lässt sich in einem Zwischenfazit festhalten, dass die Lebenssituation der Heiratsmigrantinnen, die wir in Neukölln kennengelernt haben, in sozialer Hinsicht wesentlich dadurch gekennzeichnet ist, dass sie über einen relativ großen Bekanntenkreis verfügen, in dem sie soziale Nähe finden. Sie sind nicht isoliert, sondern werden von der Familie ihres Mannes ziemlich schnell in ein funktionierendes Netzwerk eingebunden. Dadurch lernen sie auch viele Personen kennen, die die gleiche ethnische Herkunft haben und meist schon lange in Deutschland leben oder hier aufgewachsen sind. Dieses Netzwerk ist wichtig für sie und gibt ihnen gerade in der Anfangsphase das Gefühl, dazuzugehören. Es ist wichtig, aber es reicht nicht aus.

Was Heiratsmigrantinnen oft vermissen, sind Kontakte, die nicht von der Familie ihres Mannes ausgehen, sondern von ihnen selbst gewählt wurden. Es sind Kontakte, in denen sie primär als Individuum gesehen werden und nicht als Mitglied eines Haushalts. Zudem suchen sie den Austausch mit anderen Frauen, die in der gleichen Situation sind wie sie selbst.

Der Aufbau dieser Art von Kontakten gelingt ihnen in vielen der Projekte, die wir untersucht haben. Sowohl in offenen Treffs als auch in Sprachkursen gibt es zahlreiche Chancen, Kontakte zu knüpfen und sich so ein eigenes, unabhängiges Netzwerk zu schaffen. Hier können die Frauen zudem selbst entscheiden, wen sie gerne näher kennenlernen möchten. Ihre dort geknüpften Netzwerke sind daher sehr viel selektiver als diejenigen, in die sie über die Familie ihres Mannes eingebunden werden. In dieser Situation sind sie in erster Linie eigenverantwortlich handelnde Akteure, die sich ein Netzwerk aufbauen und nicht Mitglieder eines Haushalts, die in bestehende Netzwerke eingeführt werden.

Seite 5: Projekte (1)

Antworten der Sozialen Arbeit – Projekte mit und für Heiratsmigrantinnen

Wir möchten nun zeigen, wie Soziale Arbeit auf die spezielle Situation der Heiratsmigrantinnen reagieren kann. Hierzu gehen wir exemplarisch auf die Vorgehensweise von zwei Projekten ein, die uns nicht nur im Rahmen mehrerer Interviews Einblick in ihre Arbeit gewährt haben, sondern in denen wir auch die Möglichkeit hatten, teilnehmende Beobachtungen durchzuführen: das Projekt Stadtteilmütter und das Projekt Shehrazad (vgl. WITT 2006 und STRAßBURGER / BESTMANN 2006).

Shehrazad ähnelt in vielerlei Hinsicht anderen Treffangeboten wie z.B. Frühstücktreffs für Migrantinnen, die man in zahlreichen Projekten der Stadtteilarbeit und der sonstigen Sozialraumorientierten Sozialen Arbeit findet. Auch daran nehmen unserer Beobachtung nach schwerpunktmäßig Heiratsmigrantinnen teil, so dass wir davon ausgehen, dass vieles, was wir hier am Beispiel von Shehrazad diskutieren, auch für andere Projekte Gültigkeit hat. Eine Besonderheit von Shehrazad ist allerdings, dass es erfolgreich interkulturell ausgerichtet ist, was sich in der Teamzusammensetzung und folglich auch bei den Nutzerinnen widerspiegelt.

Das offene Angebot des interkulturellen Mutter-Kind-Treffs Shehrazad wird keineswegs ausschließlich von Heiratsmigrantinnen genutzt. Jedoch sind alle Frauen, die man als »Stammclique« bezeichnen könnte, weil sie den Treff mit sehr hoher Frequenz aufsuchen, Heiratsmigrantinnen. Hier wird die Vermutung bestätigt, dass diese Frauen, die noch über keine differenzierten sozialen Netzwerke verfügen und aufgrund kultureller Barrieren kaum außerfamiliäre Kontakte haben, solche Angebote sehr gerne und intensiv nutzen. In vielen Interviews mit den Nutzerinnen des Treffs wurde deutlich, dass die Frauen unter der migrationsbedingten Isolation bzw. Beschränkung auf die Familie leiden und sich sehr freuen, neue Kontakte knüpfen zu können:

»Zuhause bin ich alleine, ich habe hier in Deutschland keine Freunde, ich bin ja auch erst seit fünf Jahren hier. Ich habe auch keine Kontakte zu Nachbarn. Aber hier im Shehrazad sind viele Frauen. Ich kann herkommen, wann ich will, kann über alles Mögliche reden und einfach mit anderen zusammen sein. Das ist besser für mich und für meine Kinder.«

Auch die Angehörigen ihrer Schwiegerfamilien, und besonders die Ehemänner, begrüßen die Aktivität der Frauen in diesem Projekt. Sie fühlen sich nach Aussage der befragten Frauen dafür verantwortlich, ihrer Ehefrau hier ein glückliches Leben zu bieten. Das bedeutet unter anderem, zu verhindern, dass sie den ganzen Tag isoliert zu Hause sitzt – von Heimweh geplagt oder durch die neue Rolle in dem fremden Land verunsichert. Die Männer wünschen sich genauso wie ihre Frauen, dass diese sich weiterentwickeln, Deutsch lernen, sich über Erziehungsfragen informieren und sinnvollen Freizeitaktivitäten nachgehen. Eine Heiratsmigrantin, die oft im Shehrazad ist, erzählt:

»Mein Mann findet es sehr gut, dass ich hierher komme. Bevor ich ins Shehrazad gekommen bin, saß ich immer nur alleine zu Hause. Jeden Tag. Jahrelang. Das war sehr langweilig. Ich kannte ja fast niemanden. Wo hätte ich denn hingehen sollen? Jedenfalls sagt mein Mann immer, dass das Shehrazad für mich gebaut wurde. Wenn ich nach Hause komme, habe ich jetzt immer etwas Neues zu erzählen.«

Aus dieser Aussage wird deutlich, dass sie stolz darauf ist, wenn sie ihrem Mann zu Hause etwas Neues berichten kann und nicht immer diejenige ist, die von ihm etwas erklärt oder gezeigt bekommt.

Um den Zugang zu Heiratsmigrantinnen zu finden und das Angebot so auszugestalten, dass sie es wahrnehmen wollen und können, müssen bestimmte Vorraussetzungen erfüllt sein. Im Shehrazad ist zu beobachten, dass sich das Projekt in vielerlei Hinsicht an der Lebenssituation der Frauen orientiert. Das beginnt bereits bei der Ansprache. Wissend, dass die Frauen mit dem hiesigen sozialen System kaum vertraut sind und dass sie als Neuzuwanderinnen tendenziell eher vorsichtig, ängstlich oder misstrauisch sind, wird ein aufsuchender Ansatz der Ansprache gewählt. Man geht beispielsweise zu Spielplätzen oder anderen Orten, an denen sich junge Mütter aufhalten, und erwartet nicht etwa, dass die Frauen von alleine kommen. Die Ansprache richtet sich nicht nur an sie selbst, sondern auch an ihre Ehemänner, weil die Mitarbeiterinnen davon ausgehen, dass diese sich für ihre Frauen verantwortlich fühlen. Deshalb laden sie sie freundlich ein, sich das Projekt anzuschauen. Wenn sie dann kommen, nehmen sich die Mitarbeiterinnen viel Zeit, ihnen alles zu erklären.

»Um das Misstrauen wegzukriegen und Vertrauen aufzubauen, muss man den Männern die Möglichkeit geben, uns kennenzulernen. Damit kann man mögliche Hemmschwellen überwinden.«

Bei der Ansprache kommt ein weiterer wichtiger Faktor zum Tragen: die vielfältigen Sprachkenntnisse der Mitarbeiterinnen.

Um noch mehr Familien im Stadtteil zu erreichen, werden die Nutzerinnen des Treffs immer wieder aufgefordert, selbst andere Frauen mitzubringen. So kann man über die bereits bestehenden Netzwerke weitere Zugänge schaffen. Denn vielen im Stadtteil fällt es leichter, dem Urteil einer Verwandten oder Bekannten zu vertrauen, von der man weiß, dass sie z.B. ebenso gläubig ist. Außerdem kostet es deutlich weniger Überwindung, erst einmal mit einer anderen gemeinsam ins Shehrazad zu gehen, als sich allein dorthin zu wagen.

Doch auch in dieser Hinsicht werden die individuellen Bedürfnisse der Heiratsmigrantinnen berücksichtigt. Da den Mitarbeiterinnen klar ist, dass viele Heiratsmigrantinnen sich wünschen, außerfamiliäre Kontakte aufzubauen, wird das Multiplikatorinnen-Prinzip nicht überstrapaziert. Wenn die Frauen wollen, sind sie herzlich eingeladen, ihre Schwägerinnen oder andere Familienangehörige mitzubringen. Wenn sie jedoch lieber mal ein wenig Abstand vom familiären Rollengefüge haben wollen, wird dies ebenso respektiert und unterstützt.

Darüber hinaus ist das Projekt strukturell und inhaltlich auf die Lebenssituation und Bedürfnisse der jungen Mütter abgestimmt: Der zeitliche Rahmen ist so weit, dass ihnen die Ausübung ihrer Alltagspflichten, wie Kindererziehung oder Haushaltsführung, nicht nur ermöglicht wird, sondern sie dabei auch vielfältige Unterstützung finden. Aus diesem Grund gibt es keine inhaltlichen Vorgaben. Die Zeit im Projekt wird je nach Wunsch der Frauen gefüllt.

Seite 6: Projekte (2)

Dadurch finden die Frauen hier genau das, was ihnen ansonsten fehlt. Außerfamiliäre Kontakte, Informationen über das neue Land und Austausch mit Frauen, die die gleiche Situation zu meistern haben wie sie: Mutter zu sein in einem neuen Land. Der Austausch hilft, die eigene Situation besser zu verstehen und zu verarbeiten. Die Heiratsmigrantinnen finden im Shehrazad einen Raum, in dem sie ihr Heimweh zeigen können, ohne befürchten zu müssen – wie es in manch anderen Kontexten der Fall ist – damit ihre Ehe zu belasten oder einen schlechten Eindruck von ihrer Schwiegerfamilie zu erzeugen.

Zwei Kurdinnen erzählten von den schönen Momenten der gemein-samen Erinnerung im Projekt:

»Das ist so: Wir sind ja hier in einem fremden Land. Und wenn ich dann hierher ins Shehrazad komme, kann ich mich wie zu Hause fühlen.«

»Ja, das stimmt. Ich treffe Leute aus meiner Heimat und dann hören wir Musik aus der Heimat, kochen etwas von zu Hause. Das ist wie ein Stück Heimat.«

Doch nicht nur die Möglichkeit, Frauen aus dem gleichen Kulturkreis zu treffen, empfinden die Frauen als Bereicherung. Sie hören auch gerne etwas über die Lebensweise und Kultur ihres neuen Heimatlandes Deutschland. Außerdem finden sie es interessant, wenn Migrantinnen aus anderen Ländern berichten. So erzählte eine kurdische Heiratsmigrantin:

»Ich finde es sehr schön, andere Kulturen kennenzulernen. Neulich war eine Frau aus Tunesien hier. Sie hat mir Hochzeitsfotos gezeigt, und es war sehr interessant zu sehen, wie sie das alles machen.«

Dieser interkulturelle Austausch hat einen sehr positiven Nebeneffekt, der hilft, eines der größten Probleme der Heiratsmigrantinnen zu lösen. Um sich mit den Frauen aus anderen Ländern verständigen zu können, muss zwangsläufig deutsch gesprochen werden. Auch wenn die Deutschkenntnisse der meisten gering sind, ist Deutsch doch die einzige Sprache, die alle zumindest ein wenig können – und da auch viele andere nicht gut deutsch sprechen, ist die Angst, sich zu blamieren, relativ gering. Auf diese Weise steigt die Sprachkompetenz der Heiratsmigrantinnen ziemlich schnell.

Anders als zu Hause sind die Frauen im Shehrazad nicht so stark auf ihre Rolle als Mutter und Ehefrau festgelegt. Hier können sie mit Frauen ihres Alters über ihre Männer oder Schwiegermütter tratschen, über ihre eigenen Ziele und Wünsche diskutieren oder sich einfach nur gemeinsam bei Tanz oder Musik amüsieren. So entdecken sie, dass sie sich als Frauen und Mütter gar nicht so sehr von anderen Stadtteilbewohnerinnen unterscheiden, unabhängig davon, ob es sich nun um einheimische Deutsche oder um Frauen aus anderen Ländern handelt. Sie sehen, dass sich auch die anderen mit ähnlichen Themen beschäftigen und dass alle sich viel zu erzählen haben. Da die Frauen im Projekt gemeinsam ein Stück ihres Alltags teilen, fangen sie auch ganz automatisch an, einander zu unterstützen, und sich beispielsweise gegenseitig Tipps in Bezug auf Amtsangelegenheiten oder Fragen der Kindererziehung zu geben, Adressen für Kurse oder Kindertagesstätten auszutauschen oder auch nur günstige Einkaufsadressen weiterzuempfehlen. Eine Nutzerin erzählte:

»Egal, wo wir Mütter herkommen, hier können wir uns unterhalten. Wir reden oft über die gleichen Themen und helfen uns untereinander, z.B. bei der Wohnungssuche oder bei Männerproblemen.«

Die Frauen setzten sich auf diese Weise mit ihren eigenen Standpunkten auseinander, beginnen z.B. überholte Erziehungsmuster zu hinterfragen oder anzupassen. Ein Mitarbeiter, der an der konzeptionellen Weiterentwicklung des Projektes beteiligt ist, erklärt diesen Effekt folgendermaßen:

»Wenn man es schafft, dass die Mütter miteinander reden, wird jeder Mutter deutlich, dass es da vielleicht auch andere Ansichten gibt, und dann kommt eine Diskussion zustande.«

So werden auch die Heiratsmigrantinnen in ihrer neuen Rolle im fremden Land sicherer, werden selbstständiger und selbstbewusster und lernen, sich mithilfe der anderen Frauen und der Mitarbeiterinnen in Deutschland zu orientieren.

Seite 7: Projekte, Fazit

Eine der Mitarbeiterinnen betont, dass die Motivation der Frauen, den Treff aufzusuchen, in erster Linie auf dem Austausch und der Begegnung mit den anderen Frauen basiert. Sie sieht dies als Chance, an den Themen der Frauen pädagogisch und bisweilen auch weitervermittelnd anzusetzen: »Die wollen quatschen, quatschen, quatschen. Von einem Thema zu dem anderen. Ich sehe unsere Aufgabe darin, zu horchen, horchen, horchen und aufzufangen. Das heißt, beim Zuhören die Themen rauszufiltern, die wir noch mal gezielt ansprechen sollten. Darauf kommt es an!«

Auch einige Heiratsmigrantinnen erzählten im Interview, wie der Austausch mit den anderen Frauen und Mitarbeiterinnen ihnen hilft: »Wenn ich ein Problem habe, dann rede ich mit den anderen Frauen hier darüber. Ich höre, was die anderen dazu sagen und wie sie es vielleicht machen. Das hilft mir. Auch mit den Mitarbeiterinnen kann ich über meine Probleme reden. Das hilft einem.«

Um der Isolation der Heiratsmigrantinnen noch offensiver zu begegnen, sieht das Projekt je nach Interesse der Frauen regelmäßig Ausflüge zu Orten vor, die für die Frauen und Kinder interessant sind, wie zum Beispiel zu einem Zirkus oder einem Abenteuerspielplatz. So erschließen sich die Heiratsmigrantinnen, die bislang oft nur ihre alltäglichen Wege zu den Einkaufsmöglichkeiten kennen, den weiteren Sozialraum und dessen Ressourcen. Im Schutz der Gruppe trauen sie sich mehr zu: »Ich kenne mich hier auch noch nicht so gut aus. Wenn es hier irgendwo Feiern gibt, dann weiß ich das oft gar nicht. Und in einem Zirkus war ich vorher noch nie. Alleine wäre ich da bestimmt nicht hingegangen. Man sieht dann vielleicht, ah, das ist ein Zirkuszelt, aber ich gucke dann nur.«

Ein wesentlicher Arbeitsansatz des Projektes besteht darin, die Heiratsmigrantinnen an der inhaltlichen Ausgestaltung zu beteiligen und sie mit in die Verantwortung zu nehmen. Nur wenn sie selbst ihre Themen und Interessen einbringen, können sie sich an den für sie entscheidenden Punkten weiterentwickeln und an Sicherheit und Selbstbewusstsein für »das Muttersein in einem neuen Land« dazugewinnen, so die Überzeugung der Mitarbeiterinnen. Und weil sie es gemeinsam tun, einander Vorbild sind und sich gegenseitig unterstützen, lernen die Frauen selbstverständlich und auf natürlichem Wege dazu. Nicht wie in einem als distanziert oder gar hierarchisch empfundenen professionellen Verhältnis in einer Beratungsstelle oder Ähnlichem, wo die Pädagogen vielleicht gute Gesprächsführung, Analysegeschick und viel Erfahrung anzubieten haben, jedoch nie ein: »Ich kenne das selbst, bei mir war es auch so.«

Dem Prinzip der Peer-Hilfe folgt auch das Projekt »Stadtteilmütter«, wo Frauen mit Migrationshintergrund – darunter sehr viele Heiratsmigrantinnen – in einem mehrere Monate dauernden Kurs zu »Familienhelferinnen für Familien mit Migrationshintergrund« ausgebildet werden.

Das leitende Arbeitsprinzip ist hier die Annahme, dass sich viele Heiratsmigrantinnen gerne von Frauen mit dem gleichen Erfahrungshintergrund helfen lassen. Der Zugang ist unproblematisch, weil keine Sprachoder Kulturhürden zu überwinden sind, und auch die Annahme von Veränderungsvorschlägen gelingt auf einer Ebene der Gleichwertigkeit besser. Noch stärker als im Projekt Shehrazad werden hier die Heiratsmigrantinnen selbst als Expertinnen ihrer Lebenssituation geachtet und sehr erfolgreich als Multiplikatorinnen eingesetzt. Hier wurde ein semiprofessionelles Berufsfeld geschaffen, das Heiratsmigrantinnen offen steht und von ihnen besonders gut ausgefüllt werden kann. Dies hilft nicht nur den besuchten Müttern, sondern auch ihnen selbst. Zum einen weil ihre Kompetenzen in Bezug auf Familie und Beruf durch die Qualifizierung steigen, zum anderen, weil ihr Selbstbewusstsein durch die Beratungsaufgabe gestärkt wird.

Fazit

Wie diese beiden Beispiele zeigen, sind die Hürden in der Arbeit mit Heiratsmigrantinnen längst nicht so hoch, wie oft befürchtet. Vielmehr zeigt sich, dass sie ein hohes Interesse haben, sich weiterzuentwickeln. Auch werden sie in aller Regel keineswegs von ihren Familien daran gehindert. Hat man erst einmal den Zugang zu ihnen gefunden, was z.B. über peers sehr leicht gelingt, kommt es in der weiteren Arbeit genau auf die gleichen Prinzipien an wie sonst auch. Das Ernstnehmen der Bedarfe, Fragen und Interessen der Heiratsmigrantinnen ermöglicht ein direktes Arbeiten an ihren aktiven Themen. Haben die Frauen Vertrauen gefasst und fühlen sich ernst genommen, sind sie im Übrigen auch keineswegs nur für niedrigschwellige Projekte erreichbar, sondern lassen sich auch für viele andere familienunterstützende Angebote gewinnen.Besonders wichtig ist den Heiratsmigrantinnen, dass sie im Rahmen solcher Angebote eigene außerfamiliäre Beziehungen aufbauen können,die auf gegenseitiger Sympathie beruhen. Wichtig ist ihnen auch die Möglichkeit, sich unabhängig von sozialen Erwartungen, die in familiären Netzwerken an sie gestellt werden, unbefangen entfalten zu können. Sie suchen den Erfahrungsaustausch mit anderen Frauen, die in der gleichen Situation sind und sich gegenseitig Ratschläge geben können. Solche Gelegenheiten zur Vernetzung zu bieten, ist eine wesentliche Aufgabe in der Arbeit mit Heiratsmigrantinnen.

Seite 8: Fußnoten

(21) Bei diesen Frauen handelt es sich laut AYDIN u.a. um eine besondere Gruppe, die schon relativ alt ist (2003:58). Aufgrund anderer Informationen in dieser Studie scheint es sich dabei meist entweder um ältere geschiedene oder verwitwete Frauen mit Kindern zu handeln, die in Deutschland eine zweite Ehe eingehen werden oder aber um Frauen, die schon lange mit einem Mann verheiratet sind, der in Deutschland lebt, die aber erst in relativ hohem Alter zu ihm nachziehen.