Auf den Anfang kommt es an (Düren)

Seite 1: Ausgangslage, Zielsetzung, Besonderheiten, Vorbereitung

Ausgangslage/Rahmenbedingungen

1998 wird der sehr heterogene Stadtteil Düren Süd-Ost (die 11.000 Einwohner/innen wohnen in so unterschiedlichen Gebietsstrukturen wie 60er-Jahre Wohnsiedlungen, Einfamilienhausbebauung und sozialem Wohnungsbau der 90er-Jahre) in das »Handlungsprogramm für Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf« von Nordrhein- Westfalen aufgenommen. Das Büro für Gemeinwesenarbeit der Evangelischen Gemeinde zu Düren erhält 1999 von der Stadt Düren den Auftrag (Umfang 2 Stellen), die Menschen wohnquartiersbezogen für den Aufbau von Interessenvertretungen zu aktivieren.

Ziele der wohnquartiersbezogenen Aktivierung

Ziel ist nicht wie vielerorts, möglichst rasch Projekte zu entwickeln, sondern im Stadtteil angemessene Organisationsformen zu schaffen, die möglichst eine auf Dauer angelegte Beteiligung der Bürger/innen ermöglichen (Bürgerorganisationen).

Auf Grund der Heterogenität und Größe des Gebiets sollte die Aktivierung in verschiedenen noch auszuwählenden kleinen Quartieren stattfinden. Ziel der Aktivierung war, dass Bewohnerschaften zu Akteuren werden. Unser Ziel war es, mit den Bürger/innen zusammen Organisationsformen zu schaffen, die eine gemeinsame Vertretung der Interessen ermöglichen und die sich an den jeweiligen Strukturen des Quartiers orientieren. Eine solche Vorgehensweise ist nicht überall möglich. Von daher kommt der Voruntersuchung eine besondere Bedeutung zu.

Besonderheiten der Vorgehensweise

»Welche Quartiere haben besonderen Bedarf und eignen sich zum Aufbau von Bürgerorganisationen?«

Unsere Voruntersuchung orientierte sich schwerpunktmäßig an dieser Fragestellung. Wir betrachteten das Gebiet nicht unter dem Blickwinkel, was fehlt (Defizite), sondern versuchten schon in der Voruntersuchung neben dem Veränderungsbedarf auch die (in jedem Quartier vorhandenen) Ressourcen/Eigenkräfte in den Blick zu nehmen, da diese insbesondere für den Organisationsaufbau eine große Rolle spielen. Unter A,B,C,D beschreiben wir im Folgenden die Schritte unseres Vorgehens:

A: Vorbereitung

Wir haben sowohl subjektive als auch objektive Auswahlkriterien (s.u.) zur Untersuchung des Stadtteils entwickelt. Die Unterscheidung in subjektive und objektive Kriterien war uns wichtig, um so neben Daten und Fakten auch die Innensicht (subjektive Wahrnehmungen) sowohl der Bewohner/innen also auch der Expert/innen zu erfassen.

Subjektive Kriterien

  • Wahrnehmung des Quartiers (Wie nehmen Bürger/innen, Gemeinwesenarbeiter/innen und Expert/innen den Stadtteil wahr? Welche Identität/Wohnzufriedenheit gibt es?)
  • Potenziale; Positives (Welche Besonderheit/ Kultur des Gebietes lässt sich erkennen; aber auch welche gemeinsame Interessenlage und Aktionsbereitschaft?)
  • Probleme (Welche vermuten wir, welche werden benannt und wie groß scheint das Ausmaß der Empörung? Aber auch: Gibt es gemeinsame Konfliktgegner?)

Objektive Kriterien

  • Zusammenhängende Wohnquartiere (Wie groß sind die einzelnen Quartiere und welche baulichen Merkmale, welche Infrastruktur gibt es?)
  • Statistik (Was sagen wesentliche Daten wie Alter, Herkunft, Geschlecht, Sozialhilfe- und Wohngeldbezug, Eigentumsverhältnisse bzgl. Wohnbebauung und Freiflächen etc. aus?)
  • Sichtbare positive Merkmale (Welche Treffpunkte; freie Interessengruppen, Organisationen gibt es?)
  • Organisationspotenziale (Welche Fähigkeiten, Ressourcen sind vorhanden; Gibt es Widerstandserfahrungen und welche informellen Führungspersönlichkeiten gibt es?)
Seite 2: Durchführung, Auswertung, Vorgehen in den Quartieren

B: Durchführung der Voruntersuchung

Wir haben darauf geachtet, dass zu diesem Zeitpunkt noch keine Erwartungen geweckt werden. Es sollte ja erst die Auswertung der Untersuchung ergeben, in welchem Quartier letztendlich aktiviert werden soll. Zur Ermittlung der Auswahlkriterien haben wir diesen jeweils spezifische Methoden zugeordnet:

  • Ortsbesichtigungen/Beobachtungen,
  • Recherche (z.B. Organisationen/ Vereine, Eigentumsverhältnisse, Baujahr der Gebäude, politische Vertreter/innen),
  • Statistikauswertung (aus dem Material der Stadt Düren entnahmen wir Daten zu Einwohnerzahl und Sozialdaten (s.o.).
  • Gespräche werden zum einen mit so genannten Expert/innen als auch Bewohner/innen geführt. Bei den Expert/innen handelt es sich um Lehrer/innen, Pfarrer/innen, Kioskbesitzer/innen, Kneipiers, Bezirkspolitiker/innen, Polizist/innen..., d.h. Menschen, die beruflich in dem Quartier zu tun haben und viel mitbekommen. Bei den in der Voruntersuchung zu befragenden Bewohner/innen haben wir Kontakte über die Nutzung vorhandener Zugänge und ein Schneeballsystem gesucht. Durch Empfehlungen war ein deutlich leichterer Zugang zu gewinnen, vor allem in diesem Stadium der Untersuchung. Reine »Haustürgespräche« (ohne Ankündigung und Bezug von Tür zu Tür gehen) hätten vermutlich hier eher verschreckt denn aktiviert.
  • Für die Bewohner/innen- und Expertengespräche wurden auf dem Hintergrund der Auswahlkriterien Leitfäden entwickelt; diese Leitfäden wurden nur als Gedankenstütze genutzt; die Gespräche wurden, entsprechend den Fragen der aktivierenden Befragung, offen geführt.

C: Auswertung der Voruntersuchung

Die gewonnenen Ergebnisse und Erkenntnisse haben wir zusammengetragen und den jeweiligen kleinräumigen Quartieren zugeordnet. Diese Quartiersaufteilung wurde vorher noch einmal überarbeitet, vor allem um den Aspekt, wo aus Sicht der Bürger/innen die Grenzen Ihres Quartiers liegen.

Um eine gewisse Objektivität zu erreichen, haben wir für die Auswertung ein Punkteverfahren entwickelt. Zunächst wurden die einzelnen, o.g. Kriterien, auf Grund unserer Vorerfahrungen der Aktivierungsarbeit in anderen Quartieren, je nach ihrer Bedeutung gewichtet und mit einem Wert zwischen 1 und 10 versehen. Dieser Wert konnte maximal zugeordnet werden.

Im Anschluss haben die beiden Gemeinwesenarbeiter/innen unabhängig voneinander die den Kriterien zugeordneten Informationen und Erkenntnisse aus der Voruntersuchung bewertet. Dies zusammengerechnet ergab eine Punktzahl je Quartier. Sie gab Aufschluss darüber, wie hoch – nach unserer individuellen, fachlichen Einschätzung – der Veränderungsbedarf und wie stark die Ressourcen und Eigenkräfte in den verschiedenen Quartieren waren.

Es ergaben sich 4 Quartiere, die eine eindeutig höhere Punktzahl hatten als alle anderen. Somit war dort der größte Veränderungsbedarf und das höchste Aktivierungspotenzial ermittelt worden. Dies waren die Quartiere, in denen aktiviert werden sollte.

D: Entwicklung von spezifischen Vorgehensweisen für die einzelnen Quartiere

Nicht in jedem Quartier ist die Aktivierende Befragung praktikabel und durchführbar oder auch aus fachlicher Sicht angebracht. Deshalb wählten wir für die einzelnen Quartiere jeweils spezifische Vorgehensweisen. Für uns waren Anhaltspunkte dabei:

  • Wie sind die vorhandenen Kommunikations- und Meinungsbildungsstrukturen, die es zu berücksichtigen gilt?
  • Wer sind die »Meinungsführer/innen« , die anzusprechen sind?
  • Welche Veränderungsideen/ Probleme/ Empörungspunkte sind aus der Voruntersuchung deutlich geworden, die »Thema« sein könnten?

Aus der Beantwortung dieser Fragen leiteten sich die Ziele und anzuwendenden Methoden ab. Folgende zwei Beispiele verdeutlichen die Unterschiedlichkeit der jeweils von uns gewählten Vorgehensweise:

a) Aktivierende Befragungen gemeinsam mit einem Aktionskern

In dem Gebiet, in dem sich in der Voruntersuchung gezeigt hatte, dass viele eklatante Mängel im Wohnbereich bestehen, die Wut und Angst unter den Bewohnern groß ist und uns einige zaghaft Interessierte aus den Vorgesprächen bekannt waren, wählten wir das Vorgehen, gemeinsam mit diesen Interessierten weitere aktivierende Gespräche zu führen.

Zu einem ersten Treffen von 7 Interessierten kamen dann aber 36 Bewohner/innen, was auf einen hohen Problemdruck und einen gut funktionierenden Austausch unter den Bewohner/innen schließen ließ. In dieser spontanen Versammlung wurden die Ärgernisse gesammelt und gemeinsam das weitere Vorgehen vereinbart. Aus der Versammlung wurde eine Gruppe benannt, die die Gründung einer Interessengemeinschaft vorbereiten sollte. Mit dieser Gruppe wurde dann von uns nicht nur die Gründung vorbereitet, sondern auch die Durchführung weiterer Aktivierungsgespräche vereinbart.

Seite 3: Erkenntnisse, Kritische Punkte, Kontaktadresse

b) Durchführung einer »Planaktion« zur Aktivierung und Bedarfsermittlung

Für dieses Gebiet wählten wir auf Grund seiner Größe, und weil in der Voruntersuchung im Wesentlichen infrastrukturelle Themen genannt wurden, ein anderes Verfahren. Da es hier außerdem bereits zwei Bewohner/innen-Vereine gab, sprachen wir unser Vorgehen mit diesen ab und entwickelten mit ihnen die weiteren Schritte gemeinsam.

Wir stellten das Wohngebiet auf einem großformatigen Plan auf Styroporplatten dar. Mit diesem Plan und einem Satz Kärtchen, auf dem die uns aus der Voruntersuchung bekannten Interessen gezeichnet waren, stellten wir uns an neun verschiedenen belebten Plätzen auf. Der Plan diente als Medium, mit bisher nicht Aktiven in Kontakt zu kommen (Interessiertenliste), Gespräche und Auseinandersetzungen anzuregen. Zudem konnte, indem die Interessierten Kärtchen mit ihrem Interessen auf den Plan steckten, eine weitere Bedarfsermittlung durchgeführt werden.

Gemeinsam mit den beteiligten Organisationen wurde eine große Bewohnerversammlung vorbereitet, auf der die Ergebnisse der Bewohnerschaft präsentiert wurden und »in deren Hand gegeben« wurden. Es bildeten sich 3 Arbeitsgruppen zu einzelnen Themenschwerpunkten noch in der Versammlung. Diese erarbeiteten Vorschläge, die auf einer weiteren Versammlung zur Abstimmung gestellt wurden und die dann die Grundlage für das gemeinsame Bürgerprogramm bildeten.

Erkenntnisse

»Die umfangreiche Voruntersuchung gibt eine gute Grundlage für die spätere Aktivierungsarbeit. Die Kombination von subjektiven und objektiven Faktoren hilft ein Gebiet weitaus umfassender zu erfassen und begreifen.« »Bepunktung« ergibt eine relativ objektive Entscheidung (ein Quartier kam in die Auswahl, das beide Gemeinwesenarbeiter von ihren Vermutungen her nicht aufgenommen hätten).

Vorhandene Zugänge für Gespräche mit Bewohner/innen nutzen – da reine »Haustürgespräche« einen oft frustriert vor der Haustür zurücklassen und Zugang zu Bewohner/innen manchmal eher erschwerten. Zugänge können sein: Empfehlung von Pfarrer/innen, Kneipiers, Kolleg/innen, die jemanden kennen, der dort wohnt, andere Bewohner/innen, die schon bekannt sind. Gerade bei der Voruntersuchung ist es wichtig, Gespräche über Kontaktpersonen vermittelt zu führen, damit die Mitteilungsbereitschaft erhöht wird. Es ist uns geglückt, in der Voruntersuchungsphase keine hohen Erwartungen zu wecken, aber dennoch wussten wir, bei wem wir später anknüpfen konnten. Dies war unter anderem dadurch bedingt, dass wir von vornherein streng darauf geachtet haben, dass nicht wir die Akteure sein werden (auch bei Kleinigkeiten). Sehr entscheidend war, dass wir nichts vorgegeben haben, auch keine Räume. Dadurch wurde gewährleistet, dass von vornherein alle Aktivitäten von den Bürger/innen getragen wurden.

Kritische Punkte

Die Planaktion kann dazu führen, dass verschiedene Themen nicht genannt werden. Es findet unwillkürlich eine Beschränkung auf planerische Themen statt. Die Planaktion eignet sich gut zur Bedarfsermittlung und zum Herstellen von neuen Kontakten. Die eigentliche Aktivierung findet dann erst im Anschluss statt. Dieses Vorgehen ist nur möglich, wenn man einen klaren Auftrag für den Organisationsaufbau hat und nicht unter Zeitdruck steht, schnell sichtbare Projekte vorweisen zu müssen.

Durch diese Rahmenbedingungen (expliziten Auftrag) war es möglich, die Aktivierung selber zu machen und nicht in Auftrag zu geben (z.B. als Studierendenprojekt). Dadurch wurde auch in der Phase nach der ersten Aktivierung persönliche Kontinuität und professionelles Handeln ermöglicht. Vom Start der Voruntersuchung über die Aktivierung bis zum Beginn der Arbeit in Gruppen und Organisationen ist ein Zeitraum von mindestens 5 Monaten einzuplanen.

Die Menschen lassen sich mit diesen Verfahren nur zu Themen organisieren, die ihnen auf der Seele brennen und die sie auch nach außen äussern. Themen wie z.B. Arbeitsplatzsuche tauchten hier zunächst nicht in den Bürgerprogrammen auf.

Adresse

Büro für Gemeinwesenarbeit der
Evangelischen Gemeinde zu Düren
Postfach 100535
52305 Düren
Telefon (0 24 21) 1 88-16 9, 1 88-16 7
Telefax (0 24 21) 1 88-18 8
E-Mail: birgitta.kammann@evangelische-gemeinde-dueren.de

Autor

Dieser Beitrag von Brigitta Kamman ist folgener Publikation entnommen:
Handbuch Aktivierende Befragung: Konzepte, Erfahrungen, Tipps für die Praxis (Bonn 2012)
Die Publikation finden Sie hier.