Arbeitsbuchmethode

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Einen Spezialfall einer Aktivierenden Befragung stellt die während der siebziger Jahre in Norwegen entstandene sog. Arbeitsbuchmethode (Arbeidsbokmetoden) dar. Ihr Erfinder ist der Landschaftsarchitekt und -planer Johs. Oraug, der damals beim Norwegischen Institut für Stadt- und Regionalforschung tätig war und heute ein Planungsbüro in Oslo leitet.

Oraug selbst schätzt die Zahl der Anwendungsfälle in Norwegen bis heute auf ca. 50. Ähnlich häufige Anwendung dürfte die Methode in Schweden gefunden haben. Auch in Dänemark ist sie im Gebrauch. Außer in Wohngebieten und Stadtteilen, in denen sich soziale Probleme kumulieren, wurde sie in Skandinavien in lokalen Agenda-Prozessen sowie bei Veränderungsprozessen innerhalb von Großorganisationen angewandt.

Die Methode ist sukzessiv aus der praktischen Arbeit entstanden und wurde kontinuierlich weiter entwickelt. Dies erklärt, warum es kein 100% einheitliches Durchführungsschema gibt und einzelne ihrer Elemente variabel sind. Konstitutiv sind aber immer die Elemente der Befragung und der Ingangsetzung eines Veränderungsprozesses sowie der Dialog zwischen Betroffenen und Politik und Verwaltung.

Der Ablauf der Methode in einem Wohngebiet oder Stadtviertel läßt sich in groben Zügen so beschreiben: Zunächst erarbeitet eine heterogen zusammengesetzte Redaktionsgruppe einen Katalog mit für das Stadtviertel relevanten Fragen (Arbeitsbuch 1). Dieser wird von Multiplikator/innen, die im Stadtteil bzw. in den jeweiligen Bevölkerungsgruppen bekannt sind, an alle Bewohner/innen persönlich verteilt.

Die Antworten und Ergebnisse werden im sog. Arbeitsbuch 2 veröffentlicht. Nun werden Arbeitsgruppen mit den interessierten Bewohner/innen gebildet, in denen die Vorschläge konkretisiert und prioritiert werden. Gespräche mit Expert/innen sowie mit allen relevanten Gruppen folgen. Die Ergebnisse werden dann im sog. Arbeitsbuch 3 zusammengestellt mit konkreten praktischen Vorschlägen, die Grundlage für politische Entscheidungen bilden sollen.

Die 8 Schritte einer Arbeitsbuchmethode

1. Vorklärungen
Der Anstoß zu einem Arbeitsbuchprojekt kann von lokalen Initiativen, Bewohnerinnen und Bewohnern, der Stadtverwaltung, der Kommunalpolitik oder von Einzelpersonen ausgehen. Zunächst gilt zu klären, ob das Gebiet räumlich klar abgrenzbar und die Durchführung der Arbeitsbuchmethode sinnvoll und leistbar ist. Sie empfiehlt sich z.B. nicht, wenn in dem Gebiet bereits zeitgleich andere Formen aufsuchender Arbeit praktiziert werden bzw. noch nicht abgeschlossen sind oder wenn erkennbar ist, daß die für ihre Durchführung und Umsetzung notwendigen Ressourcen nicht verfügbar sein werden. Zur Vorklärung gehören auch die Ansprache und Gewinnung von Kooperationspart­ner/innen in Politik und Verwaltung und die Herstellung von deren Bereitschaft, sich auf den Prozess einzulassen.

2. Bildung einer Redaktionsgruppe
Ist die Vorklärung erfolgreich abgeschlossen, gilt es, eine »Redaktionsgruppe« zu bilden. Die Gruppe soll heterogen, d.h. unterschiedliche Interessen und Gruppen des Stadtteils umfassend, zusammengesetzt sein. Zu ihren Mitgliedern gehören vorzugsweise Vertreter/innen der Bewohner/innen – in Skandinavien insbesondere die dort sehr starken Mietervereinigungen –, Multiplikator/innen aus Vereinen, Migrant/innenorganisationen und andere Repräsentant/innen des Stadtteils sowie Kontaktpersonen der Verwaltung. Die Redaktionsgruppe nimmt die Funktion einer Art Projektleitung wahr.

3. Benennung eines Koordinators, einer Koordinatorin
Die Erfahrung zeigt, dass ein/e hauptamtliche/r Projektmitarbeiter/in unverzichtbar ist. Seine bzw. ihre Aufgabe besteht darin, die Vorgaben der Redaktionsgruppe umzusetzen, die technisch-organisatorischen Abläufe abzuwickeln, Ansprechperson nach innen und außen zu sein und für den Informationstransfer zu sorgen. Je nach Aufwand des Projekts wird von einer halben Stelle für ein halbes oder ganzes Jahr ausgegangen.

4. Themen und Fragestellungen festlegen
Das übergreifende Thema oder Leitmotto eines Arbeitsbuchprojektes kann sehr allgemein formuliert sein, wie z.B. »Besseres Zusammenleben in ...«. Die Redaktionsgruppe stellt jedoch vorab Fragen und Themen zusammen, die für das Gebiet von hoher Relevanz sind und im Rahmen des Projektes angegangen werden sollen. Hierbei stützt sie sich auf eigene Erfahrungen, aber auch auf Gespräche mit anderen »Ressourcenpersonen« , z.B. Geschäftsleute, Lehrer/innen, Erzieher/innen, Sozialarbeiter/innen. In diesen Gesprächen können sich über offene Fragen (entsprechend den Fragen der Aktivierenden Befragung) zunächst Themenschwerpunkte herauskristallisieren (diese sind vergleichbar mit den Auswertungskategorien, wie sie üblicherweise für eine Bewohnerversammlung gebildet werden), die wiederum die Grundlage bilden für die Fragen in Arbeitsbuch 1. Mit einem kleinen »Pretest« bei einzelnen Kontaktpersonen wird geprüft, ob die Fragen auch allgemein verständlich sind.

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5. Erstellung von Arbeitsbuch 1
Ein »Arbeitsbuch« ist kein abschreckender, dicker Wälzer. Vielmehr handelt es sich in der Regel um sehr heiter und lesefreundlich aufgemachte und mit vielen Abbildungen, Zeichnungen oder auch Zeitungsartikeln illustrierte DIN A4-Hefte von zwischen 16 bis 24 Seiten Umfang, also eher um bebilderte Fragebögen. Der Name »Arbeitsbuch« ist daher vielleicht im Deutschen etwas irreführend.

Arbeitsbücher beginnen zumeist - aber nicht immer! - mit offenen Fragen. Beispiel aus einem Projekt in einem Wohngebiet von Norrköping: »Was ist gut und wichtig in Ljura? Bitte versuchen Sie, drei Punkte zu benennen!« – »Was ist weniger gut, was sind Mängel in Ljura? Versuchen Sie bitte, drei Punkte zu benennen.«

Auf den folgenden Seiten präsentiert die Redaktionsgruppe unterschiedliche Probleme des Wohngebietes – ggf. auch unterschiedliche Lösungsansätze und Meinungen – und stellt dazu Fragen. Wenn das Arbeitsbuch aufgeschlagen ist, stehen jeweils auf der linken Seite die Problembeschreibung und mögliche Lösungsvorschläge. Auf der rechten Seite finden sich die dazu gehörigen – zumeist – geschlossenen Fragen (ja/nein/weiß nicht bzw. Wahl von Alternativen) und Raum für weitere Vorschläge und eigene Ideen.

Neben Meinungen und Stellungnahmen wird auch nach der persönlichen Bereitschaft gefragt, bei der Lösung des Problems oder bei der weiteren Planung zu dem jeweiligen Punkt selber mitzuarbeiten.

Das Arbeitsbuch enthält eine kurze Einführung, warum das Projekt gestartet wurde/wird, eine Beschreibung der Methode (Arbeitsbuch 1 bis 3), Informationen zur Abgabe (Datum, Adresse) sowie eine Auflistung der Namen derjenigen, die an der Erstellung des Arbeitsbuchs beteiligt waren.

6. Verteilung und Einsammlung von Arbeitsbuch 1
Das Arbeitsbuch 1 wird immer persönlich verteilt, also nicht etwa bloß in den Briefkasten geworfen oder per Post verschickt. Diese persönliche Verteilung ist ein absolutes Muss. Hierfür werden Multiplikator/innen, sprich: vertraute Gesichter, aus Vereinen, Organisationen oder den jeweiligen Bevölkerungsgruppen gewonnen. So achtet man z.B. in Wohngebieten mit hohem Migrant/innenanteil darauf, dass die Bewohner/innen möglichst von Bürger/innen aus ihren jeweiligen Herkunftsländern besucht werden, alleine schon, um sprachliche Probleme zu vermindern. Auch bei anderen (z.B. Verständnis- oder Lese-)Schwierigkeiten stehen die Verteiler/innen als Ansprechpersonen zur Verfügung.

Die gesamte Aktion wird über die Lokalpresse, Handzettel, Aushänge in Geschäften, die örtlichen Vereine, Schulen vorab angekündigt, damit sie für die meisten Bewohner/innen nicht völlig überraschend kommt. Mit der Übergabe wird ein Abgabe- oder Einsammeltermin bekannt gegeben oder vereinbart. Wenn es geht und gewünscht ist, wird das Arbeitsbuch zum vereinbarten Termin auch wieder von der selben Person abgeholt. Dies ist aber kein Muss.

Unterschiedlich wird gehandhabt, ob jeder Haushalt oder jedes Haushaltsmitglied einzeln ein Arbeitsbuch erhält. Verschiedentlich wurden auch nach Altersgruppen differenzierte Arbeitsbücher erstellt (auch für Kinder und Jugendliche). Ebenso wurden statt der Haus-zu-Haus-Verteilung auch andere Formen der Verteilung z.B. über die Schulen, Läden, die örtlichen Vereine gewählt.

Für die Beantwortung wird ein Zeitraum von 10 bis 14 Tagen angesetzt. Möglichst wird im Arbeitsbuch 1 angegeben, wann mit Arbeitsbuch 2 und den nächsten Schritten zu rechnen ist, damit sich alle Befragten darauf einstellen können. Wer nach Ablauf der Frist nicht geantwortet hat, wird noch einmal erinnert.

Wenn nicht mehr als ein Viertel der betroffenen Bewohner/innen erreicht werden, wird empfohlen, den Prozess nicht weiter fortzusetzen. Stattdessen solle man sich überlegen, was man falsch gemacht hat. Es sei ein Zeichen dafür, dass man nicht die Sachen gefragt hat, die die Menschen wirklich interessierten. Die Regel ist aber, dass die Rücklaufquoten weit höher liegen.

7. Arbeitsbuch 2
Die eingegangenen Antworten werden zusammengestellt und im Arbeitsbuch 2 dokumentiert. Alle Bewohner/innen erhalten ein Exemplar. Zusammen mit der Verteilung wird zu Studienzirkeln (Arbeitsgruppen) eingeladen, die entweder nach Themen oder nach räumlichen Kriterien gebildet werden. In den Studienzirkeln, die von Mitgliedern der Redaktionsgruppe oder dem Koordinator/der Koordinatorin moderiert werden können, wird eine Rangordnung und Gewichtung vorgenommen. Hierzu werden Sachverständige aus der Verwaltung und andere Expert/innen eingeladen, um Angaben zu den Umsetzungsmöglichkeiten und -alternativen, Kosten, verfügbare Haushaltsmittel zu machen. Während Arbeitsbuch 1 vor allem darauf zielte, grundsätzliche Wünsche zu ermitteln, verschiebt sich der Schwerpunkt nun zu den Fragen der Durchführung: wie und wer? Es werden konkrete Umsetzungsschritte oder -vorschläge entwickelt. Die Studienzirkel sollen ihre Arbeit binnen 2 Monaten abschließen.

8. Arbeitsbuch 3 und Umsetzung
Die Redaktionsgruppe fasst die Ergebnisse im Arbeitsbuch 3 zu Handlungsempfehlungen zusammen, die an alle Bewohnerinnen und Bewohner sowie an Politik und Verwaltung gehen. Politik und Verwaltung legen in einem zuvor vereinbarten Zeitraum dar, ob, wann und wie die an sie gerichteten Vorschläge umgesetzt werden und geben später einen Umsetzungsbericht ab.

Seite 3: Bewertung, Literatur

Bewertung

Mit der Methode wurden in den skandinavischen Ländern sehr positive Erfahrungen gemacht. Arbeitsbuchprozesse haben dort zahlreiche lokale Planungsprozesse geprägt und Veränderungen bewirkt. Sie führten jeweils zu neuen Kenntnissen über die Bedarfe, Bedürfnisse und Meinungen der beteiligten Menschen, brachten unterschiedliche Bevölkerungsgruppen miteinander ins Gespräch und belebten die lokale Demokratie. Ebenso aktivierten sie ressourcenschwache Bevölkerungsgruppen, die bisher gar nicht oder kaum an Entscheidungsprozessen und an der Gestaltung des Wohnquartiers beteiligt waren. Die Ergebnisse fanden überwiegend breite Zustimmung und Verankerung. Die beteiligten Bürgerinnen und Bürger unterstützen die Umsetzung. Fast überall entstanden aus dem Kontakt im Rahmen der Arbeitsbuchmethode vielfältige weitere soziale und politische Aktivitäten.

Grundlagen für das Gelingen der Arbeitsbuchmethode in der Stadtteilarbeit sind eine kleinräumig-überschaubare Struktur und die Bereitschaft von Politik und Verwaltung, sich auf einen solchen Prozess einzulassen. Für die Anwendung der Methode kommen abgeschlossene Wohnquartiere mit 500 bis max. 5.000 Haushalten in Frage. Entscheidend ist nach Oraug, dass die Arbeitsbücher persönlich verteilt und wieder eingesammelt werden können. Hier sind die Voraussetzungen in den durchweg viel kleineren Gemeinden Skandinaviens natürlich andere als bei uns. Für eine relativ kleine Zahl von Beteiligten ist der Aufwand vergleichsweise hoch.

Ohnehin kann es nicht darum gehen, ein in einer bestimmten politischen Kultur entstandenes Modell einfach im Maßstab 1 : 1 auf ein anderes Land zu übertragen. Vielmehr geht es beim Blick über die Landesgrenzen um Anregungen und Impulse, die wir für die eigene Praxis gewinnen können. Bei der Arbeitsbuchmethode sind dies neben der Art der Ansprache der Bürgerinnen und Bürger vor allem die Systematik der Erhebung und Auswertung und die Integration in politische Entscheidungsprozesse.

Die Arbeitsbuchmethode lässt sich, wie etwa die Erfahrungen bei Veränderungsprozessen im Verbandsbereich in Norwegen zeigen, vielfältig und auch überlokal einsetzen. Johs. Oraug arbeitet daran, die Methode für die Anwendung via Internet weiter zu entwickeln.

Literaturtipp

Bohs Oraug: 10 års erfaringer med Arbeidsbokmetoden. Oslo 1988.

Bo Mårtensson/Lars Orrskog: Så här vill vi göra‘ t. Arbetsboksmetoden. Byggforskningsrådet 1988 (Stockholm).

Kerstin Sandelius: Arbetsboksmetoden. Brevskolan 1985 (Stockholm).

Autor

Dieser Beitrag von Adrian Reinert ist folgener Publikation entnommen:
Handbuch Aktivierende Befragung: Konzepte, Erfahrungen, Tipps für die Praxis (Bonn 2012)
Die Publikation finden Sie hier.